Liebe auf den letzten Blick
Duschbad und einer zweiten Toilette, und mir gingen die Gegenargumente aus.
Mit nächtlichem Harndrang hat Amelie nichts am Hut. Sie möchte Gustl einfangen, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hat. Oder muss man in unserem Alter eher von Liebe auf den
letzten
Blick sprechen? Bisher schien Gustl immun gegen Amelies »Honig am Höschen« zu sein, doch ich kenne ihn lange genug, um erste Anzeichen schlechten Gewissens bei ihm zu erkennen, das er wegen seiner vor drei Jahren verstorbenen Frau Susanne hat. Seit wir vier zusammenleben und er nicht mehr einsam und verlassen in der Wohnung sitzt, die er dreißig Jahre gemeinsam mit seiner Familie bewohnt hat, fängt er offensichtlich an, seine Trauer zu überwinden. Er besucht Susannes Grab nicht mehr täglich, seine Gerichte sind plötzlich stark gesalzen, und zum Schlafen trägt er ein ausgeleiertes T-Shirt mit dem Slogan:
MAKE LOVE NOT WAR
.
»Mathilde!« Irma reißt mich aus meinen Gedanken. »Was ist denn jetzt mit der Jubiläumsfeier? Ich habe extra meine Verabredung mit Otto verschoben.« Sie erhebt sich, um am offenen Küchenfenster eine Zigarette zu rauchen.
Irma pflegt seit Jahren eine platonische Freundschaft zu Otto Goldbach, einem erfolgreichen Schauspieler. Sie hat den berühmten Mimen im Salon »Chez Schorschi« kennengelernt, Münchens schickstem und teuerstem Coiffeur, wo sie seit Ewigkeiten Promis und Stars verschönert.
»Wenn ich mich hier so umsehe, sollten wir lieber die restlichen Umzugskartons auspacken, Ordnung schaffen und den Dreck wegputzen«, antworte ich. »Ich meine, solange ringsum so ein Chaos herrscht …«
»Dazu ist am Wochenende noch genug Zeit«, meint Gustl, stapelt aber immerhin Teller und Besteck, trägt das Geschirr zur Spüle und schnappt sich einen bereitliegenden Block. »Ich gehe einkaufen. Was wollt ihr morgen essen?« Er kommtzurück an den Tisch und setzt sich neben mich. »Du darfst dir was wünschen, Mathilde.«
Backen und Kochen sind seine Lieblingsbeschäftigungen. Als leidenschaftlicher Familienmensch liebt er es, uns alle zu bekochen. Und wenn es uns schmeckt, strahlt er wie der Gewinner einer Konditorenmeisterschaft.
Amelie steht auf und tänzelt barfuß zum Kühlschrank, wobei der Rocksaum ihres bunten Blumenkleides wippt. Seit sie in die Frührente geschickt wurde, trägt sie wieder Hippiekleider, tonnenweise bunte Ketten, Ohrringe, Armschmuck und wilde Frisuren. Neulich kam sie mit einem Paar türkisfarbener Birkenstock-Sandalen an, angeblich von Heidi Klum entworfen.
»Wie wär’s mit Grillen? Für morgen ist Sonne angesagt«, schlägt sie vor. »Milch fehlt, Joghurt auch und Diätmargarine.«
»Also, wenn Fleisch, dann nur Bio«, bestimmt Irma und pustet malerische Rauchkringel nach draußen.
Irma ernährt sich seit Jahren bis auf wenige Ausnahmen vegetarisch. Angeblich sei sie deshalb faltenfrei, sagt sie. Manchmal behauptet sie auch, Rauchen würde konservierend wirken. In Wahrheit lässt sie sich regelmäßig Botox spritzen, um gegen ihre Promikundschaft nicht
alt
auszusehen.
Ein leises Frühlingslüftchen weht die Rauchschwaden zurück in den Raum. Sonnenstrahlen verfangen sich in Irmas roter Strubbelfrisur. Vogelgezwitscher ist zu hören.
Amelie unterbricht die Vorratskontrolle der Lebensmittel für einen Moment und lauscht dem Vogelgesang. »Ob da eine Nachtigall zwitschert?«
»Na klar«, bestätigt Irma mit gespielt ernster Miene. »Nachtigallen singen grundsätzlich zur Mittagszeit.«
»Ach, ich dachte, nur in der Nacht, weil sie doch so heißen«,sinniert Amelie. »Egal, ich finde es schön, dass wir in einer Straße mit einem Vogelnamen wohnen.«
»Da muss ich dich enttäuschen«, entgegnet Irma. »Sie wurde nach Gustav Nachtigal benannt, einem berühmten Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts. Und der schreibt sich nur mit einem L im Gegensatz zum Vogel. Hat uns doch der Makler verraten.«
»Echt?« Amelie ist sichtbar überrascht. »Kann mich gar nicht erinnern.«
»Macht doch nichts«, sagt Gustl.
Auch mir war es entfallen. Etwas anderes fällt mir aber in diesem Moment auf. »Gustl ist die Abkürzung von Gustav.«
Gustl lacht. »Genau!«
Amelie klatscht vor Freund in die Hände. »Na bitte. Ich hab’s gewusst, die Wohnung hat auf uns gewartet.«
Ich muss lachen. Diese seltsame Situation könnte sich auch in einer ganz normalen Kleinfamilie abspielen. Papa plant den Großeinkauf, die Kinder quengeln nach Überraschungseiern und Mama beobachtet das Ganze mit Wohlgefallen.
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