Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
1
SAG DIE WAHRHEIT
Die New York Times brachte den Artikel in der Sonntagsausgabe, zusammen mit zwei Fotos: eines von mir, allein, eine Zigarette rauchend, in die Betrachtung meiner übereinandergeschlagenen Knöchel versunken, und ein größeres, etwas verschwommenes von uns beiden, wie wir uns nach der Trauung mit zusammengekniffenen Augen durch einen Vogelfutter-Hagel ducken. Wir gehörten weder zu den Reichen und Schönen, noch hatten wir eindrucksvolle persönliche Daten vorzuweisen, doch wie wir uns kennen gelernt hatten, war einen Artikel in der Gesellschaftskolumne wert: Ray Russo kam zur Beratung auf meine Station. Ich sagte zu ihm, was ich zu allen Männern sage, die wegen einer Nasenkorrektur kommen. Sie haben eine aristokratische, ja majestätische Nase. Die hat Charakter. Verleiht Ihnen Charakter. Haben Sie sich das gut überlegt?
Was in der Times stand, stimmte: Wir haben uns als Ärztin und Patient kennen gelernt. Ich habe ihm mittels Computersimulation gezeigt, wie er aussehen würde, habe sein unregelmäßiges, vom Leben gezeichnetes Gesicht mit einer perfekten Nase und den symmetrischen Nasenlöchern eines Filmstars versehen - und was er da sah, gefiel ihm nicht. »Wozu bin ich eigentlich gekommen?«, fragte er sich laut. Und diese Frage klang nachdenklich. »Habe ich wirklich geglaubt, dass mich so was attraktiv macht?«
»So wurden wir alle sozialisiert«, sagte ich.
»Schließlich habe ich ja keine verkrümmte Scheidewand oder so was. Und meine Versicherung zahlt mir das auch nicht.«
Vanitas vanitatum oder - anders ausgedrückt - elektive Operation.
Er fragte nach meiner Meinung als Expertin. Ich sagte: »Es gibt keinen Weg zurück, wenn es einmal passiert ist, also überlegen Sie sich’s gut. Nur nichts überstürzen. Ich spiele nicht gerne Gott. Ich bin hier nur turnusmäßig Ärztin im Praktikum.«
»Aber Sie haben in Ihrem Leben bestimmt schon jede Menge Nasen gesehen, und da haben Sie doch sicher auch eine künstlerische Meinung.«
»Ich persönlich würde es nicht tun«, sagte ich aus Gründen, die weniger mit Ästhetik zu tun hatten als mit dem Ekel erregenden Geräusch von unter dem OP-Hammer brechenden Knochen.
»Echt? Sie meinen also, meine Nase ist O. K. so?«
»Darf ich fragen, warum Sie gerade jetzt einen Termin vereinbart haben, Mr. Russo?«, fragte ich mit einem Blick auf seinen Patientenbogen, der mir sagte, dass Russo in einem Monat vierzig werden würde.
»Seien wir doch ehrlich: Frauen mögen gut aussehende Männer«, sagte er mit Wehmut in der Stimme und niedergeschlagenem Blick.
Was sollte ich darauf sagen? Blieb nur ein höfliches »Und Sie halten sich nicht für gut aussehend so, wie Sie sind? Glauben Sie wirklich, dass Frauen Sie nach der Größe Ihrer Nase beurteilen?«
Er lächelte, und die Kamera über dem Bildschirm fing dieses Lächeln ein. Er hatte schöne Zähne.
»Ich habe bisher nicht viel Glück in der Liebe gehabt. Ich bin fünfundvierzig und habe keine Freundin.«
»Stimmt Ihr Geburtsdatum nicht?« Ich zeigte auf das Blatt auf meinem Klemmbrett.
»Ach, das! Ich unterschlage immer fünf Jahre, wenn ich mich um eine Stelle bewerbe, damit man mich nicht wegen meines Alters von vornherein aussortiert. Schlechte Angewohnheit. Hab ganz vergessen, dass man auf medizinischen Formularen immer die Wahrheit sagen sollte.«
»Und auf welchem Gebiet sind Sie tätig?«
»Ich bin Geschäftsmann, selbstständig.«
»Welche Branche?«
»Lizenzen. Das heißt, ich treffe ständig Leute. Glauben Sie nicht, dass ich schon jemand kennen gelernt hätte, wenn ich nicht so eine verbotene Visage hätte?«
Das war der Teil, den ich hasste - die Psychiatrie, das Reden. Und deshalb enthielt ich mich der Mahnung, die auf meinem Gebiet ohnehin kaum zu beherzigen ist - dass nämlich Schönheit nur äußerlich ist und maßlos überschätzt wird -, tippte auf ein paar Tasten und bewegte die Maus. Jetzt hatten wir wieder Rays Originalgesicht vor uns - die hervorstehenden Knochen, ausladenden Knorpeln, die alles dominierende Nase, auf die weniger gewissenhafte Ärzte sich mit Gusto gestürzt hätten. Wenn es jetzt so klingt, als hätte ich da etwas gesehen, eine Tugend, etwas wie Mitgefühl oder Männlichkeit, hinter dem der physische Faktor zurücktrat, dann stimmt das keineswegs. Ich schmeichelte ihm, um meinen eigenen Prinzipien gerecht zu werden, meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Schönheitschirurgie. Ray Russo jedoch hielt mein Schweigen für den Ausdruck
Weitere Kostenlose Bücher