Liebe braucht keinen Ort
wahrhaftig würdig erweisen. Es ist alles nur eine Frage der Zeit.«
Aber die Jahre vergingen und die Unruhen nahmen zu. Die Leute misstrauten nicht nur den Außerirdischen, sondern sie fingen auch an, sich gegenseitig zu misstrauen. Alte Freunde ihrer Eltern brachen den Kontakt ab. Es gab Gerüchte, ihr Vater
wolle
, dass die Außerirdischen die Macht an sich rissen.
»Es ist schon in Ordnung, Liza«, erwiderte ihr Vater dann immer. »Das ist nur eine Meinung. Jeder hat das Recht auf seine Meinung.«
Aber Liza sah, wie dankbar ihr Vater all denen war, die noch zu Besuch kamen, und sie war den Tränen nah. Genauso hätte sie weinen können, als sie bemerkte, dass das endlose Gerede ihres Vaters über die Außerirdischen das Glück ihrer Mutter zerstörte.
Liza bedauerte es, dass ihre kleine Schwester, die im Jahr nach der Landung geboren wurde, ihre Eltern nicht mehr so kennenlernen konnte, wie sie davor gewesen waren. Denn Liza war klar, dass das Leben ihres Vaters an jenem Tag zum Stillstand gekommen war. Genau wie das von Millionen anderer Menschen. Überall auf der Welt warteten die Leute darauf, was die Außerirdischen wohl tun würden, und wollten endlich herausfinden, ob mit der Landung das Ende der Welt oder ein neuer Anfang gekommen war. Sie warteten und vergaßen dabei, selbst zu leben. Mittlerweile war es fast schon gleichgültig, ob die Außerirdischen planten, die Macht an sich zu reißen oder nicht. Sie hatten durch ihre bloße Ankunft schon genug Schaden angerichtet.
Als Liza erneut mit dem Abstreifen fertig war, war es schon lange nach drei Uhr morgens. Nachdem sie die Begegnung mit Piper überstanden hatte, war das eigentliche Abstreifen gar nicht mehr so schwer, wie sie erwartet hatte. Tatsächlich fühlte sie sich jetzt entspannt und voller Energie, als sie sich auf den Weg zu Ellie Harts Zimmer machte. Sie stellte sich vor, wie sie über eine heilende Brücke aus blauen Ranken schritt. Darunter sangen ein paar Eistaucher, und ihre Rufe bildeten eine ganz eigene Brücke vom einen zum anderen. Es war, als hätte der erste Teil ihrer Schicht gar nicht stattgefunden. Zur ihrer Erleichterung stellte Liza fest, dass die Durchdringung keine dauerhaften Auswirkungen gehabt hatte.
Sobald sie ins Zimmer trat, umflutete sie ein Gefühl tiefen, ruhigen Friedens. Mrs Hart schlief natürlich, aber Liza konnte sich im schwachen Schein der Maschinen und Monitore gut zurechtfinden. Sie bewegte sich leise, zog einen Stuhl ans Bett und nahm die Hand der alten Frau in die ihre.
Wie immer begann Liza damit, dass sie dem Universum für die Gabe dankte, die ihr verliehen worden war, und um die Kraft bat, sie gut zu nutzen.
Dann fing sie damit an, wie Mrs Hart sie gebeten hatte, sich einen weiten blauen See vorzustellen, der in der Sommersonne glitzerte, und machte so die glücklichen Erinnerungen, über die Mrs Hart mit ihr gesprochen hatte, zu einem Teil des Heilungsprozesses. Sie ließ die Luft von den Rufen der Eistaucher erschallen und vom Gelächter von Kindern, die in der Nähe einer Anlegestelle spielten. Zu guter Letzt fügte sie noch das Geräusch eines Bootes hinzu, in dem Mrs Harts Ehemann, ein junger und quicklebendiger Mann, den Motor anließ.
»Wer hat Lust auf Wasserski?«, rief er. Mrs Hart hatte Glück,dass sie so gute Erinnerungen hatte, und sie hatte sie großzügig mit Liza geteilt.
Als Nächstes kam der Teil, den Liza am liebsten mochte. Sie stellte sich Mrs Hart in allen Phasen ihres Lebens vor. Wie sie laufen lernte, Geburtstagskerzen auspustete, nervös war, als zum ersten Mal ein Junge mit ihr flirtete. Sie stellte sich ein junges Mädchen vor, das Halsketten und Ohrringe entwarf und Broschen und Armreifen, ganz begierig darauf, Dinge zu schaffen, die anderen helfen würden, sich hübsch oder glücklich zu fühlen. Sie stellte sich eine junge, frisch verheiratete Frau vor, dann eine ältere Mrs Hart, die auf der Hochzeit ihrer Tochter tanzte und ihren Mann fragte: »Wohin ist nur all die Zeit verschwunden?« Und jede dieser vielen Mrs Harts, die durch die Jahreszeiten und die Jahre wirbelten, bat sie um ein bisschen Gesundheit und Lebenskraft. Liza verstand den Fluss der Zeit nicht, aber sie glaubte, dass man immer das gleiche Selbst blieb, das man in der Vergangenheit gewesen war und in der Zukunft sein würde, und dass man, wenn man sich genug bemühte, in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft voraus reichen konnte, um Hilfe zu bekommen, wenn man sie
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