Liebe braucht keinen Ort
brauchte.
Die Zeit löste sich auf und verschwand für Liza. Sie war in der Menge der vielen Mrs Harts völlig untergegangen. Nicht mit allen Patienten konnte sie mit solcher Leichtigkeit arbeiten, doch Mrs Hart war eben anders. Liza spürte auch einen Unterschied zum letzten Mal, als Mrs Hart im Krankenhaus gewesen war. Es war, als hätte sie seither eine weitere spirituelle Dimension hinzugewonnen.
Liza sammelte die Energie von all den Mrs Harts und leitete sie zu der Frau hin, die schlafend im Bett lag. Sie ließ sie ihr ins Gehirn und ins Herz wirbeln und durch die Arterien fließen, und sie stellte sich vor, wie die Energie sich in den Organen ansiedelte,um jegliche Infektion zu vertreiben, die sich vielleicht dort eingenistet hatte.
Plötzlich wurde Liza ohne Vorwarnung von einem tiefen, stechenden Schmerz unterhalb ihres Brustkastens erfasst, der so intensiv war, beinahe wie ein Krampf, dass sie von ihrem Stuhl aufsprang. Sie hatte etwas Ähnliches erst zweimal zuvor verspürt, einmal in einem Simulator während ihrer Ausbildung und einmal vor einem Jahr mit einem echten Patienten. »O nein«, keuchte sie leise. »Nein. Nein. Nein.« Aber Liza wusste, dass sie bereits verloren hatte. Das Pulsieren des tiefen und sich ausbreitenden Krebsgeschwürs in dem gebrechlichen alten Körper war unverkennbar. Nach der Lage des Schmerzes und den Enzymwerten zu schließen, die Liza zuvor genau angesehen hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass der Tumor in Mrs Harts Leber saß, eine der wenigen Krebsarten, für die die Medizin noch kein Heilverfahren gefunden hatte.
Tränen brannten in Lizas Augen. Zwei rollten ihr über die Wangen und sie wischte sie rasch fort. Eine Empathin durfte niemals vor einer Patientin weinen, selbst wenn es eine schlafende Patientin war. Liza rang um Fassung, aber es war zwecklos. Langsam sackte ihr Kopf nach vorn, bis ihr Gesicht in der tröstenden Wärme der Krankenhausdecke geborgen war. Das war unprofessionell, aber sie konnte einfach nicht anders. Der Schmerz in ihrem Körper fesselte sie an den Stuhl und sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fragte sich, ob die Ärzte schon Bescheid wussten und ob jemand es schon Mrs Hart gesagt hatte.
Sie bemerkte die sanfte Hand, die auf ihrem Kopf ruhte, zunächst gar nicht, doch sie erkannte Mrs Harts Stimme.
»Es ist alles gut, meine Liebe«, sagte die alte Dame. »Du darfst nicht so sehr weinen. Ich weiß es schon eine ganze Weile. Ichwusste es schon, bevor ich hierhergekommen bin, und ich bin darüber nicht traurig, also sei du es auch nicht. Ich hatte ein wunderbares Leben, aber ich bin jetzt müde. Das wirst du verstehen, wenn du selbst alt bist. Ich bin bereit weiterzuziehen. Außerdem: Wie sonst soll ich je meinen Mann wiedersehen?«
Mrs Hart hatte recht. Liza konnte es nicht verstehen. Warum Mrs Hart? Warum musste überhaupt jemand sterben? Warum konnten nicht alle ewig leben? Sie konnte nur die Hand der alten Frau drücken. Ellie Hart drückte stark und tröstend zurück und schaffte es, dass sich Liza doch ein kleines bisschen besser fühlte.
Damit war Lizas Schicht beendet. Empathinnen durften nicht mehr als zweimal an einem Abend abstreifen. Liza erklärte der diensthabenden Beraterin die Lage so knapp wie möglich, erwähnte dabei die Begegnung mit David Sutton nur am Rande und betonte stattdessen, was bei Mrs Hart geschehen war. Sie wusste, dass sie später ihrer persönlichen Beraterin einen viel längeren, detaillierteren Bericht erstatten musste, und es graute ihr davor, aber irgendwie würde sie das schon hinbekommen. Im Augenblick war sie einfach nur froh, wieder ihre Straßenkleidung anziehen zu können.
Es war seltsam, dass draußen gerade erst die Sonne aufging. Die Nacht war Liza so lang vorgekommen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn sie in eine völlig andere Jahreszeit hinausgetreten wäre. Aber die Welt war still und es war immer noch Sommer. Sie saß eine Weile auf einer Bank gegenüber vom kleinen Garten des Krankenhauses und beobachtete Vögel, die im Morgentau badeten. Wie konnte es sein, dass diese Vögel im nächsten Jahr noch leben würden, Mrs Hart aber nicht?
Zum ersten Mal seit Jahren hatte Liza Heimweh. Ihr Wunsch,Empathin zu werden und die bestmögliche Ausbildung zu absolvieren, hatte sie schon sehr früh von zu Hause fortgeführt, als sie gerade erst dreizehn Jahre alt gewesen war. Ihre Eltern hatten nicht dagegen protestiert, und Liza hatte sich
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