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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Blut auf der Schönhauser Allee
    Mein Freund und Namensvetter Wladimir wohnt mit seiner Familie genau gegenüber auf der anderen Seite der Schönhauser Allee. Manchmal scheint er ein richtiger Doppelgänger von mir zu sein, oder ich von ihm. Er ist so alt wie ich, trägt denselben Namen wie ich, dieselben Klamotten, und er hat ebenfalls eine Frau und zwei Kinder. Auch seine Wohnung ist ganz ähnlich, er raucht dieselbe Zigarettenmarke und kauft dieselben Lebensmittel immer zur gleichen Zeit im gleichen Supermarkt wie ich. Das Einzige, was uns unterscheidet, ist die Tatsache, dass seine Frau eindeutig brünett ist, meine aber nicht. Neulich beim Einkaufen bemerkte ich noch einen Unterschied: Wladimir war offenbar plötzlich Vegetarier. Er kaufte Unmengen von gefrorenem Gemüse, sah dabei jedoch ganz unglücklich aus. »Ich kann kein Fleisch mehr sehen«, gestand er mir in der Schlange vor der Kasse. Auf dem Rückweg nach Hause erzählte er, wie es dazu gekommen war.
    Vor ungefähr einer Woche fand er auf der Autobahn ein überfahrenes Wildschwein. Siebzig Kilo Fleisch lagen auf der Straße – einfach so. »Ein Geschenk des Himmels«, dachte Wladimir und zerrte das tote Tier in den Kofferraum seines alten Mazda. Er hatte sich gerade am Vormittag mit seiner Frau verkracht, weil sie morgens immer so missgelaunt war, und wollte ihr nun das Wildschwein als eine Art Wiedergutmachung mitbringen: »Ein Geschenk für dich, Liebling!«, so ungefähr stellte er sich das vor. Die Sau blutete ihm sofort den ganzen Kofferraum voll. Als Wladimir an einer Raststätte anhielt, um zu tanken, bemerkte der Wirt: »Da tropft Blut aus Ihrem Kofferraum, vielleicht sollten Sie mal nachschauen.«»Danke, ist schon gut, ich weiß Bescheid«, antwortete Wladimir und lächelte freundlich. Der Mann sagte nichts mehr und wollte von Wladimir auch kein Geld mehr für Benzin haben.
    Als er in der Schönhauser Allee ankam, war es schon spät. Er musste das Wildschwein allein in den vierten Stock zerren. Dabei rutschte ihm das Tier mehrere Male die Treppe runter. Oben angekommen war er fix und fertig. Die Treppe und seine Klamotten waren voller Blut. Dazu kamen ihm die ersten Zweifel: Vielleicht war das Wildschwein doch keine so gute Geschenkidee? Nun war es jedoch zu spät. Er konnte den Kadaver unmöglich entsorgen. Seine Frau war nicht zu Hause, die Kinder bereits im Bett. Wladimir legte das Schwein in die Badewanne, nahm alle Waschlappen, die er in der Wohnung finden konnte, und ging ins Treppenhaus, um aufzuwischen.
    Inzwischen hatten seine Nachbarn die Polizei alarmiert. Sie hatten den Streit am Morgen mitbekommen und waren nun fest davon überzeugt, dass Wladimir seine Frau umgebracht hatte. Als die LKA-Einheit ankam und die Blutspritzer vor dem Haus sah, forderte sie sofort Verstärkung an. Bis an die Zähne bewaffnet stürmten die Beamten das Haus und fanden Wladimir auf der Treppe mit einem Eimer Wasser und einem Waschlappen in der Hand, wie er das Blut wegwischte. »Ich mache alles wieder gut«, versprach Wladimir den Polizisten. Sie legten ihm dennoch Handschellen an und betäubten ihn ein wenig – zur Sicherheit. Danach folgten die Polizisten den Blutspuren nach oben und entdeckten im Waschraum das Wildschwein.
    »Das ist aber nicht Ihre Frau«, wunderten sie sich.
    »Nein«, erwiderte Wladimir, »meine Frau ist brünett.«
    »Und wo ist sie jetzt?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Wladimir wahrheitsgemäß.
    Die Polizisten zerrten das tote Tier zu viert nach unten. Mein Doppelgänger musste natürlich als mutmaßlicher Täter mit aufs Revier. Ein Selbstmord kam nicht in Frage. Im Grunde ist Wladimir dann doch noch verhältnismäßig heil aus der Geschichte herausgekommen: mit zweitausend Mark Strafe. Aber jetzt kann er kein Fleisch mehr sehen und ist insofern auch kein Doppelgänger mehr von mir. Nun muss ich ganz alleine im Supermarkt an der Fleischtheke anstehen.

Händler auf der Schönhauser Allee
    Merkwürdige Dinge ereignen sich in Berlin. Nach einer langen Pause breitet sich die vietnamesische Handelskette »Lebensmittel« im Ostteil der Hauptstadt weiter aus. Auch bei uns im Haus an der Schönhauser Allee. Nachdem das »Kinderparadies« wegen Konsumentenverachtung endgültig schließen musste, hing ein großer Zettel am Schaufenster: »Hier eröffnet demnächst Laden Lebensmittel.« Schon am ersten Tag lernte ich die fünf Vietnamesen kennen, die den Laden betrieben: vier Männer und eine Frau. Alles mutige Händler. Trotz völligen

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