Liebe deinen nächsten
Mordet sogar schon Pointen.«
»Ich kannte ihn noch als Kind«, erklärte Marill. »Zart und trostbedürfig. Vor ein paar Monaten.«
Steiner lachte. »Er lebt in einem labilen Jahrhundert. Da kommt man leicht um – aber man wächst auch schnell.«
Marill nahm einen Schluck des leichten, roten Weins. »Ein labiles Jahrhundert!« wiederholte er. »Die große Unruhe! Ludwig Kern, ein junger Wandale der zweiten Völkerwanderung.«
»Stimmt nicht«, erwiderte Kern. »Ich bin ein junger Halbhebräer beim zweiten Auszug aus Ägypten!«
Marill sah Steiner anklagend an. »Dein Schüler, Huber«, sagte er.
»Nein – das Aphoristische hat er von dir, Marill! Im übrigen erhöht ein sicherer Wochenlohn den Witz jedes Menschen. Es lebe die Heimkehr der verlorenen Söhne zum Gehalt!« Steiner wandte sich an Kern. »Steck das Geld in die Tasche, Baby, sonst fliegt es weg. Geld siebt das Licht nicht.«
»Ich werde es dir geben«, sagte Kern. »Dann ist es gleich weg. Du bekommst ohnehin noch viel mehr von mir zurück.«
»Untersteh dich! Um Geld zurückzunehmen, bin ich noch lange nicht reich genug!«
Kern sah ihn an. Dann steckte er das Geld in die Tasche. »Wie lange sind heute die Geschäfe offen?« fragte er.
»Warum?«
»Heute ist doch Silvester.«
»Bis sieben, Kern«, sagte Marill. »Wollen Sie Schnaps einkaufen für heute abend? Der ist hier in der Kantine billiger. Ausgezeichneter Martinique-Rum.«
»Nein, keinen Schnaps.«
»Aha! Sie wollen dann anscheinend wohl am letzten Tage des Jahres auf den Pfaden bürgerlicher Sentiments wandeln, was?«
»So ungefähr.« Kern stand auf. »Ich will zu Salomon Levi. Vielleicht ist er heute auch sentimental und hat labilere Preise.«
»In labilen Jahrhunderten steigen die Preise«, erwiderte Marill. »Aber immer los, Kern! Gewohnheit ist nichts – Impuls alles! Und vergessen Sie über dem Schachern nicht, um acht Uhr ist das Abendessen der alten Krieger der Emigration bei der Mère Margot!«
SALOMON LEVI WAR ein behendes, wieselartiges Männchen mit einem schütteren Ziegenbart. Er hauste in einem dunklen, gewölbeartigen Raum, zwischen Uhren, Musikinstrumenten, gebrauchten Teppichen, Ölgemälden, Hausrat, Gipszwergen und Porzellantieren. Im Schaufenster waren billige Imitationen, künstliche Perlen, silbergefaßter alter Schmuck, Taschenuhren und alte Münzen sinnlos durcheinander aufgestapelt.
Levi erkannte Kern sofort wieder. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Hauptbuch und schon manches gute Geschäf dadurch gemacht.
»Was gibt’s?« fragte er sofort kampfereit, weil er ohne weiteres annahm, Kern wollte wieder etwas verkaufen. »Sie kommen zu einer schlechten Zeit!«
»Wieso? Haben Sie den Ring schon verkauf?«
»Verkauf, verkauf?« jammerte Levi. »Verkauf sagen Sie, wenn ich mich nicht verhört habe. Oder habe ich mich geirrt?«
»Nein.«
»Junger Mann«, zeterte Levi weiter, »lesen Sie denn keine Zeitungen? Leben Sie auf dem Mond und wissen Sie nicht, was in der Welt vorgeht? Verkauf! So alten Plunder! Verkauf! Wie Sie das sagen, so großmächtig dahin, wie der Rothschild. Wissen Se, was dazu gehört, daß mer was verkauf?« Er machte eine Kunstpause und erklärte dann pathetisch: »Daß ein femder Mensch kommt und was haben will und daß er dann seine Börse aus der Tasche zieht …«, Levi holte ein Portemonnaie hervor, »sie öffnet« – er öffnet es – »und bares, koscheres Geld herausnimmt« – er zückte einen Zehnfrankenschein –, »es hinlegt« – der Schein wurde auf dem Tisch glattgestrichen – »und dann die Hauptsache« – Levis Stimme kletterte ins Falsett –, »sich dauernd von ihm trennt!« Levi steckte den Schein wieder ein. »Und wofür? Für irgendeinen Fummel, irgend’ne Sache. Bares, koscheres Geld! Daß ich nicht lache! Nur Verrückte und Gojim machen so was. Oder ich Unglückseliger mit meiner Leidenschaf fürs Geschäf. Also was haben Sie diesmal? Viel kann ich nicht geben. Ja, vor vier Wochen, das waren noch Zeiten!«
»Ich will nichts verkaufen, Herr Levi. Ich möchte den Ring wiederkaufen.«
»Was?« Levi sperrte einen Moment den Mund auf, wie eine hungrige Goldammer im Nest. Der Bart war das Nest. »Ah, ich weiß schon, tauschen wollen Se. Nee, junger Mann, das kenn’ ich! Ich habe vor ’ner Woche noch Pech damit gehabt, ’ne Uhr, gut, sie ging nicht mehr, aber Uhr ist Uhr schließlich, gegen ein bronzenes
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