Liebe deinen nächsten
Renoirs und die farbigen Szenen Manets. Es war still, und niemand außer ihnen war da, und allmählich erschien es Kern und Ruth, als säßen sie in einem verzauberten Turm, und die Bilder seien Fenster zu fernen Welten – zu Gärten ernster Lebensfreude, zu weiten Gefühlen, zu großen Träumen und zu einer unzerstörbaren Landschaf der Seele, jenseits von Willkür, Angst und Rechtlosigkeit.
»Emigranten!« sagte Marill. »Die alle dort waren auch Emigranten! Gejagt, verlacht, ’rausgeschmissen, ohne Bleibe of, verhungert, manche angepöbelt und ignoriert von ihren Zeitgenossen, elend gelebt, elend gestorben – aber seht euch an, was sie geschaffen haben! Die Kultur der Welt! Das wollte ich euch zeigen.«
Er nahm seine Brille herab und putzte sie umständlich. »Was ist Ihr stärkster Eindruck bei diesen Bildern?« fragte er Ruth.
»Der Friede«, sagte sie sofort.
»Der Friede. Ich dachte, sie würden sagen: die Schönheit. Aber es ist wahr – Friede ist heute Schönheit. Besonders für uns. Und Ihrer, Kern?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kern, »ich möchte eins davon haben und es verkaufen, damit wir was zu leben haben.«
»Sie sind ein Idealist«, erwiderte Marill.
Kern sah ihn mißtrauisch an. »Ich meine das ernst«, sagte Marill.
»Ich weiß, daß es dumm ist. Aber es ist Winter, und ich würde Ruth einen Mantel kaufen.«
Kern kam sich ziemlich töricht vor; aber ihm fiel wirklich nichts anderes ein, und er hatte die ganze Zeit dran gedacht. Zu seiner Überraschung fühlte er plötzlich Ruths Hand in seiner. Sie strahlte ihn an und lehnte sich fest gegen ihn.
Marill setzte seine Brille wieder auf. Dann blickte er sich um. »Der Mensch ist groß in seinen Extremen«, sagte er. »In der Kunst, in der Liebe, in der Dummheit, im Haß, im Egoismus und sogar im Opfer – aber das, was der Welt am meisten fehlt, ist eine gewisse mittlere Güte.«
KERN UND RUTH hatten ihr Abendessen beendet. Es bestand aus Kakao und Brot und war seit einer Woche ihre einzige Mahlzeit, abgesehen von der Tasse Kaffee und den zwei Brioches morgens, die Kern in den Zimmerpreis mit eingehandelt hatte. »Das Brot schmeckt heute nach Beefsteak«, sagte Kern. »Nach gutem, saftigem Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln dran.«
»Ich fand, es schmeckte nach Huhn«, erwiderte Ruth. »Nach jungem Brathuhn mit frischem, grünem Salat dazu.«
»Möglich. Vielleicht auf deiner Seite. Gib mir eine Scheibe von da. Ich kann gut noch etwas Brathuhn vertragen.«
Ruth schnitt eine dicke Scheibe des langen französischen Weißbrots ab. »Hier«, sagte sie. »Es ist ein Schenkelstück. Oder willst du lieber Brust?«
Kern lachte. »Ruth, wenn ich dich nicht hätte, würde ich jetzt mit Gott hadern!«
»Und ich würde ohne dich im Bett liegen und heulen.«
Es klopfe. »Brose«, sagte Kern ziemlich gemütlos. »Natürlich, gerade im Moment zartester Liebesbekenntnisse!«
»Herein!« rief Ruth.
Die Tür öffnete sich. »Nein!« sagte Kern. »Das ist doch unmöglich! Ich träume!« Er stand so vorsichtig auf, als wolle er ein Phantom nicht verscheuchen. »Steiner«, stammelte er. Das Phantom grinste. »Steiner!« rief Kern. »Herr des Himmels, es ist Steiner!«
»Ein gutes Gedächtnis ist die Grundlage der Freundschaf -und der Verderb der Liebe«, erwiderte Steiner. »Entschuldigen Sie, Ruth, daß ich mit einer Sentenz eintrete – aber ich habe unten eben meinen alten Bekannten Marill getroffen. Da ist so was unvermeidlich.«
»Wo kommst du her?« fragte Kern. »Direkt aus Wien?«
»Aus Wien. Auf dem Umweg über Murten.«
»Was?« Kern trat einen Schritt zurück. »Über Murten?«
Ruth lachte. »Murten ist der Ort unserer Schmach, Steiner. Ich bin dort krank geworden – und diesen alten Grenzwanderer hat die Polizei erwischt. Ein ruhmloser Name für uns – Murten.«
Steiner schmunzelte. »Deshalb war ich da! Ich habe euch gerächt, Kinder.« Er holte seine Briefasche hervor und zog sechzig Schweizer Franken heraus. »Hier. Das sind vierzehn Dollar oder etwa dreihundertfünfzig französische Francs. Ein Geschenk Ammers’.«
Kern sah ihn verständnislos an. »Ammers?« sagte er. »Dreihundertfünfzig Francs?«
»Ich erkläre dir das später, Knabe. Steck es ein. Und nun laßt euch mal ansehen!« Er musterte beide. »Hohlwangig, unterernährt, Kakao mit Wasser als Abendbrot – und keinem hier was gesagt, wie?«
»Noch nicht«,
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