Liebe die bleibt
werden.
„Wie heißt der Stadtteil ins Ungewisse?“, werde ich gefragt. Ganz sachlich, ohne ironischen Unterton.
Er hat eine warme angenehme Stimme, er riecht gut, ist etwa Mitte dreißig. Ist das jetzt wichtig? Ja, ist es. Schließlich vertraue ich diesem Menschen mein Leben an. Er muss mich wohlbehalten nach Hause fahren, nach Hause, ins Ungewisse.
„München… Bogenhausen… Dirschauer Straße“, antworte ich.
„Eine längere Fahrt“, sagt er.
„Wenn sie keine Umwege fahren, sind wir in einer Stunde da“, behaupte ich.
„Von mir aus, können Sie sich’s hinten gemütlich machen, die Beine ausstrecken und schlafen“, schlägt er vor, während er sich beim Fahren kurz nach mir umdreht.
„Nein, lieber nicht, ich habe Angst, dass Sie dann auch einschlafen.“
„Keine Bange, ich pass’ schon auf Sie auf.“
Was für ein schöner Satz, denke ich schmunzelnd. Schade, dass ich ihn dafür bezahlen muss.
„Wollen Sie Musik hören?“, fragt er weiter.
„Nein, ich möchte überhaupt nichts mehr hören.“
„Alles klar… ich verstehe.“
„Gar nichts verstehen Sie…“, brumme ich vor mich hin und lümmle mich in den Sitz hinein.
So fährt mich mein Begleiter durch die Nacht . Vorbei an langgezogenen Häuserzeilen. In einigen Wohnungen brennt noch Licht. Gar nicht wenige Fenster sind hell erleuchtet, durch andere scheint gedämpftes Licht, manche haben keine Gardinen vor dem Fenster.
Was werden die Leute hinter den Fenstern wohl gerade tun, geht mir durch den Kopf. Welche Schicksale verbergen sich hinter diesen Mauern des Schweigens? Kann man an den Fenstern erkennen, ob sich dahinter glückliche oder unglückliche Menschen verbergen? Leben hinter diesen lieblosen Fenstern ohne Gardinen auch lieblose Menschen? Menschen, die keinen Wert auf ein gemütliches Zuhause legen, die lieber unterwegs sind, sich im Großstadtrummel daheim fühlen? Vielleicht um der Einsamkeit zu entrinnen? In meiner Wohnung hängen an allen Fenstern Gardinen. Helle und mattschimmernde Vorhänge, die wasserfallartig bis zum Boden wallen. Ich liebe es, wenn sie sich bei offenem Fenster aufbauschen, die reflektierten Sonnenstrahlen durch den Stoff scheinen und die mir bei düsterem Wetter die Sicht nach draußen ersparen. Ich bin ein Mensch, für den ein gemütliches Zuhause wichtiger ist als ein schönes Auto, Urlaube oder edle Kleidungstücke. Meine Altbauwohnung ist nicht sehr groß, gerade einmal fünfundsechzig Quadratmeter, dafür ist sie mit hohen Stuckdecken und mit einem alten knirschenden Eichenholzboden ausgestattet. In die Zimmertüren sind bunte Glasmosaike eingearbeitet und die großen Sprossenfenster besitzen eine Rundbogenform mit verschnörkelten Fenstergriffen. Im Bad befindet sich eine alte, gusseiserne Wanne mit wuchtigen Klauenfüßen und ein Badeofen, den man vorher kräftig einheizen muss, um ein heißes Bad zu nehmen. Ich nehme diese Unbequemlichkeit gern in Kauf, genau so gern wie die Tatsache, dass sich meine Wohnung im vierten Stock befindet. Hier gibt es keinen Fahrstuhl, dafür ein kunstvoll gedrechseltes Treppengeländer, an dem ich mich abstützen kann, wenn ich mit meinen schweren Einkaufstüten aus der Puste komme. Aber das Schönste an meiner Wohnung ist der Balkon, mit seinen verwitterten Sandsteinsäulen, der direkt zur Straße hinausführt. In den warmen Monaten staffiere ich ihn mit großen Pflanzen aus, so dass mich die Palmenblätter an der Nase kitzeln, wenn ich am Holztisch sitze und meine Schreibarbeit verrichte. Manchmal sitze ich sogar in den Wintermonaten mit einem Glas Tee oder Glühwein draußen, schaue den Schneeflocken beim Tanzen oder der Sonne bei ihrem Versteckspiel zu. Ich liebe mein Zuhause, es ist mein Refugium, Spiegel meiner Seele, Arbeitsplatz, Liebesnest, Krankenlager, mein Kurort und in Zukunft wohl auch meine Arrestzelle. Acht Jahre lebe ich in dieser Wohnung, eines davon verbrachte ich mit Augustin.
„Haben Sie eigentlich Gardinen an ihren Fenstern?“, frage ich den Taxifahrer, als wir an einer Ampel halten.
Er überlegt, reibt sich seine Nase.
„Merkwürdige Frage“, erwidert er. „ Ja, ich habe Gardinen an den Fenstern.“
Ich spüre, wie es ihm drängt, zu erfahren, warum ich ihm diese Frage stelle, aber er schweigt. Das macht ihn interessant für mich. Offenbar ist er ein einfühlsamer Mensch, einer, der nicht aufdringlich erscheinen möchte, negative Schwingungen anderer Menschen erahnt und weiß, dass man in anderleuts Intimsphäre nicht
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