Liebe in groben Zügen
her. Dafür geht es Renz besser, wir fahren morgen. Dann müssen wir noch in Torri zur Polizei und fahren gleich weiter. Warte zu Hause auf uns, verschieb deinen Flug, Brasilien läuft nicht davon! Sie suchte Renz’ Hand, irgendeine Nähe zu ihm, seine Hilfe, aber er hielt die Arme verknotet, als hätte er immer noch Schüttelfrost. Nein, völlig unmöglich – Katrin hob sich das Haar hinter die Ohren, die Augen verdreht –, es ist ein Billigflug, man kann nicht umbuchen, und ich muss auch zu meiner Arbeit, sie wollen dort einen Staudamm bauen, wisst ihr das? In ein paar Jahren wird alles unter Wasser sein, das ganze Gebiet, und die Bewohner sonst wo, ich muss mich eilen, ich hätte gar nicht weggedurft. Aber ich wollte es, ich liebe euch, ihr seid meine winzige Familie, wir sehen uns Weihnachten, passt auf euch auf! Und sie winkte noch in die Kamera und strich sich, aus dem Winken heraus, über die Nase, dann verschwand sie vom Schirm, mit einem Ton der Verflüchtigung wie ein schlürfender Sog in den Raum zwischen ihrem Dasein und dem aller Menschen, die älter waren.
Das Kind, sagte Renz, dieses Kind, das hätte sie bekommen sollen, mein Gott, warum hat sie es nicht bekommen! Er rollte sich zum Schlafen auf die Seite, aber streckte noch eine Hand hinter sich in die Luft, nach ihrer Hand oder irgendetwas von ihr, als drohte er sonst abzustürzen, in seine ganz eigene, die renzsche Nacht, und sie drückte die Hand einen Moment lang und sah seinen Kopf, auf der Seite liegend, das Auge nur lose geschlossen. Es schien, als würde er weinen, so genau wusste sie das nie, wenn er krank war, weinen um Katrin und das Kind, um sie beide als Großeltern oder auch nur um sie beide, Mann und Frau, ihre besten Jahre, wenn es die gab: noch etwas, das sie nicht wusste. Vielleicht waren es auch nur beste Stunden, großzügig addiert, darunter die in Assisi, als Kasper noch lebte und die Erdplatten tief unter der Stadt trotz aller Spannung verhakt waren. Und sogar in den Tagen danach etwas Bestes, das zu bewahren wäre, den Tagen nach Kaspers Tod und dem Erdbeben, als Renz ihr zu essen und zu trinken gab, sie beide in denselben Mauern wie jetzt, als er sie nährte und hielt, bis sie wieder die Kraft hatte, aufzustehen und mit ihm weiterzuleben. Schlaf, sagte sie leise und schloss das Notebook; sie schob es in die Tasche zu dem Kuvert mit ihrem Namen und ging samt der Tasche ans Fenster und zählte wieder die Lichtpunkte in der Ebene.
Fünfzehn waren es, einer weniger als gestern, als sei jemand gestorben, und sie zählte noch einmal, und wieder waren es fünfzehn. Als Kind, auch schon intelligent und wohl doch nicht ganz unschuldig, hatte sie die ersten grauen Haare ihrer Mutter gezählt und die väterlichen Geldscheine in seiner Hose. Die Nachtluft war kühl, aber sie blieb am Fenster, ein Warten, bis Renz’ Atem gleichmäßig strömte, dann ging sie mit der Tasche ins Bad und schloss hinter sich ab.
Empfangene Briefe, die man kaum zu öffnen wagt, das Gegenteil von Korrespondenz; man trägt sie mit sich herum, als seine gefalteten Hoffnungen und Ängste. Das zweite Blatt in dem Umschlag, das Kindermalpapier, war nur einmal gefaltet und bis an das Emblem von Alitalia und die Pinocchio-Figur beschrieben, die ersten Zeilen mit rotem Buntstift, gleich am Anfang ihr Name, Vila. Vila und Renz, das Paar, das noch nicht zu viel voneinander weiß, die beiden nachts auf ihrem Boot, einer alten Sea Ray mit Kabine unter dem Bug und Polstern im offenen Rückteil. Dann war die rote Spitze abgebrochen, es ging mit Bleistift weiter, Eine Fahrt bei leichtem Regen, die letzte in dem Jahr, das Ende ihres Sommers am Kleinen Meer, und alles Übrige, in immer engerer Schrift, verschwamm ihr. Sie schob das Blatt, so gefaltet wie zuvor, in den Umschlag zurück und legte ihn wieder in die Tasche, schloss die Tasche und stellte sie ab und machte das Licht im Bad aus – eine Dunkelheit, als steckte sie selbst in der Tasche oder dem Umschlag. Sie tastete nach dem Waschbeckenhahn und ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen – wie lange kann sich ein Vogel in der Luft halten, ohne mit den Flügeln zu schlagen: Frage ihrer Mutter, als sie von einem Tag auf den anderen allein war, sitzengelassen. Oder wie lange hält man es im Stockdunklen aus, ohne mit sich zu reden, dir kann nichts geschehen, hab keine Angst, und ohne sich selbst anzufassen, wo beginne ich, wo hört alles auf?
Wenn sie am Ende ihrer Stunden im Eckbalkonzimmer aus dem Bad
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