Liebe ist der größte Schatz
Ballbesucher um sich her zu beobachten.
Auf Gesellschaften und Soireen wie dieser würde sie in der nächsten Zeit des Öfteren weilen.
England.
Gedankenverloren befühlte Emerald den Seidenstoff ihres Kleides, während sie in wenigen Zügen das dritte Champagnerglas leerte. Das prickelnde Getränk minderte ihre Angst und schärfte unerwartet ihre Sinne. Alles hier kam ihr fremd vor, die Klänge, die Gerüche, selbst die Gefühle, die die Menschen zu haben schienen. Wie sehr sehnte sie sich nach der Sonne, nach dem Wind oder dem warmen Regen und den süßen schweren Blütendüften Jamaikas. Und wie gern würde sie sich endlich wieder von dem hochgeschnürten Korsett befreien und den warmen Sand der Bucht von Montego auf ihrer Haut spüren. Am liebsten wäre sie jetzt, auf der Stelle, in die Fluten des azurblauen Ozeans getaucht und hinausgeschwommen, bis sie die Welt an Land weit hinter sich gelassen hätte.
Seufzend mahnte sie sich, ihre Gedanken zu sammeln. „Keine Erinnerungen mehr“, wisperte sie und nahm dankbar zur Kenntnis, dass in diesem Augenblick ihre Tante sich ihr gegenüber auf den einzigen leeren Stuhl setzte. Lady Haversham wirkte ungewöhnlich bleich.
„Geht es dir gut, Miriam?“
„Er ist hier, Emmie …“ Miriam vermochte den Satz kaum zu Ende zu führen.
„Wer?“, fragte Emerald überflüssigerweise, denn sie kannte die Antwort, bevor die Tante gesprochen hatte.
„Asher Wellingham.“
Emerald spürte, wie Angst sich ihrer bemächtigte – und Wut. Am Ende war er also doch aufgetaucht, und die vielen abendlichen Veranstaltungen, die sie so wenig schätzte, würde sie bald nicht mehr besuchen müssen.
Das wochenlange Warten hatte an ihr zu zehren begonnen, und gegen die Avancen der Gentlemen konnte sie sich inzwischen nur noch schwer verwahren. Hatte Wellingham sie gesehen und wiedererkannt? Sie stellte ihr Glas auf dem Tisch neben sich ab und verbannte eine lose Locke hinter ihr Ohr. Sie hoffte inständig, dass er sich nicht an sie erinnerte, wenn sie einander gegenüberstanden, denn andernfalls war ihre Reise vergebens gewesen, und im schlimmsten Fall drohte ihr die Verfolgung durch das Gesetz.
„Wo ist er?“, fragte sie und ärgerte sich über ihre plötzliche Unruhe.
„Dort drüben in der Ecke bei der Tür. Er hat dich vorhin eine ganze Weile beobachtet.“
Emerald widerstand dem Drang, sich nach ihm umzudrehen. „Denkst du, er ahnt etwas?“
„Nein. Hätte er dich erkannt, wären die Konstabler längst hier, um dich zu arretieren. Wellingham würde nicht mit der Wimper zucken, wenn es darum ginge, dich als Tochter und Komplizin eines Freibeuters an den Galgen bringen zu lassen.“
„Könnte er das tatsächlich bewirken?“
„Oh, du wärest erstaunt, über wie viel Macht und Einfluss Wellingham verfügt, Emmie – und dabei würde er sich moralisch absolut im Recht fühlen.“
„Dann müssen wir uns mit unserem Vorhaben beeilen. Dreh dich langsam um“, forderte Emerald die Tante auf, die prompt viel zu auffallend den Kopf zur Seite wandte. „Stützt er sich auf einen Stock?“
Emerald hielt den Atem an. Konnte es so einfach sein?
„Nein. Er hält lediglich ein Glas in der Hand. Ich glaube, er trinkt Weißwein.“
Emerald ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. „Dann wird wenigstens meine Abendrobe nicht ruiniert sein.“ Sie besaß genau drei Kleider, die sie gebraucht in einem Laden in der Monmouth Street gekauft hatte. Ein viertes würde sie sich nicht leisten können.
„Oh, meine Liebe, du wirst doch nicht etwa vorhaben, unter irgendeinem Vorwand mit ihm zusammenzustoßen? Er merkt bestimmt, dass du ihm etwas vorspielst, dessen bin ich mir sicher.“
„Keine Sorge, Tante Miriam. Ich beherrsche diesen Trick. In Kingston und Port Antonio ließ Beau mich oft genug irgendwelche Frauen anrempeln, wenn er einen Grund brauchte, sie anzusprechen. Hier wird es einfacher werden. Ein leichter Stoß genügt, und ich habe Gelegenheit, eine Konversation mit ihm zu beginnen und eine Weile in seiner Gesellschaft verkehren zu können.“
„Du hast es mit dem Duke of Carisbrook zu tun. Unterschätze ihn nicht wie dein Vater damals.“
Emerald stockte für einen Augenblick der Atem. Beau war in der Tat unvorsichtig geworden, doch sie würde nicht den gleichen Fehler wie er begehen. Sie neigte sich vor und löste die silberne Schnalle an ihrem linken Schuh, denn die Details mussten stimmen. Der Vater hatte ihr das ein ums andere Mal eingebläut. Dann erhob sie
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