Liebe ist kein Beinbruch
Banditen und Halunken? Würde ihre Hauptaufgabe darin bestehen, Schusswunden zu versorgen? Sie war keine Chirurgin und hatte seit ihrer Facharztausbildung nicht mehr mit schweren Verletzungen zu tun gehabt. Und auf ihrem Weg hierher waren ihr keine Polizeistation und auch kein Gefängnis aufgefallen. Also, wer kümmerte sich um die Sicherheit in dieser Möchtegernstadt Sweetness, Georgia?
Hinter ihrem Rücken hörte sie zwei der Männer, die die Boxen ins Haus trugen, miteinander tuscheln. „Ich weiß ja nicht, wie du darüber denkst“, flüsterte der eine, „aber ich werde nicht zu einer Ärztin gehen.“
„Ich auch nicht“, entgegnete der andere Mann. „Viel zu peinlich. Riley kann mich wieder zusammenflicken, falls es nötig sein sollte.“
„Seh ich genauso.“
Sie zwang sich, weiterzugehen, während in ihrem Kopf die Fragen durcheinanderwirbelten. Doch die Fragen würden warten müssen, bis sie Porter Armstrongs Knöchel verarztet hatte.
Durch die vielfarbige Holzverkleidung – einige der Bretter waren unbehandelt, einige gestrichen, andere verwittert und ein paar neu – wirkte die zweigeschossige Pension auf den ersten Blick wie eine rustikale Hütte. Aber bei näherer Betrachtung war das Gebäude riesig. Eine lang gestreckte, breite, rundum laufende Veranda mit ungehobelten Schaukelstühlen hieß die Neuankömmlinge willkommen. Sie traten in einen geräumigen Bereich, der zwar dürftig, jedoch gemütlich möbliert war. Der kräftige Geruch von Sägespänen stieg ihr in die Nase. Ihre Schritte hallten von den blanken Holzfußböden und den frisch gestrichenen weißen Wänden wider. Sie kam an einer großen Küche und einem Esszimmer vorbei und sah hinauf zum oberen Stockwerk. Hinter einem leuchtend roten Geländer, das sich zu beiden Seiten erstreckte, befanden sich zahlreiche Türen. Vermutlich verbargen sich hinter den Türen die Schlafzimmer. Nikki schluckte schwer. Sie hatte nicht vorgehabt, eine Küche, Esszimmer und den Salon mit Dutzenden anderer Frauen zu teilen. Sie hoffte, dass wenigstens jedes Zimmer ein eigenes Bad hatte.
Nur für den Fall, dass sie überhaupt blieb.
Der breite Flur kreuzte einen weiteren Korridor, der zu beiden Seiten abging und an den sich noch mehr Zimmer anschlossen. Schließlich kam die Gruppe in einen großen Raum im hinteren Teil des Hauses. Durch bodentiefe Fenster strömte Sonnenlicht herein. Das Zimmer war fast leer und hatte beinahe die Größe eines Tanzsaals. Verrückterweise sah sie vor ihrem inneren Auge eine Gruppe von Menschen beim Squaredance, die ausgelassen johlte und schrie.
Die älteren Armstrong-Brüder legten Porter, der inzwischen lauthals sang, auf einen langen Holztisch.
„Wird das gehen, Dr. Salinger?“, fragte Kendall sie und zuckte bei seines Bruders schiefer Interpretation von Gnarls Barkleys Song „Crazy“ zusammen.
Sie nickte und zeigte den Arbeitern dann, wo sie die Aus-rüstung und die Boxen abstellen sollten. Rachel stand allen hübsch im Weg herum. Es war keine Überraschung, dass Porter Armstrong sich mit seiner pathetischen Darbietung an die schöne Blondine wandte.
„… and I’m crazy for luh-uh-ving … yoooo …”
Marcus legte seine Hand auf Porters Mund. Der Rest des Textes war nur noch undeutlich zu verstehen. „Dr. Salinger, wir beginnen sofort mit dem Bau einer richtigen Ambulanz“, erklärte Marcus ihr, während sein Bruder sich unter seiner Hand wand. „Und wenn sich alles beruhigt hat, würden wir gern mit Ihnen über einen Arbeitsvertrag sprechen.“
Nikki lächelte nur. Sie wollte sich nicht dazu verpflichten, so lange zu bleiben, bis das richtige Haus aus Stein und Mörtel – oder was an seltsamen Materialien auch immer die Männer für die Konstruktion verwenden würden – errichtet worden wäre.
„Wie können wir Ihnen jetzt helfen?“, fragte Kendall Armstrong.
Nikki legte die Hand auf ihre Stirn. Seit der Ausbildung hatte diese Geste ihr dabei geholfen, sich zu konzentrieren. „Schicken Sie alle raus.“
„Ich kann Ihnen assistieren, Dr. Salinger“, bot Rachel strahlend an.
„Alle“, wiederholte Nikki ruhig. „Ich muss eine Röntgenaufnahme von seinem Bein machen, damit ich weiß, womit ich es zu tun habe.“
Kendall fing an, alle hinauszutreiben – auch die offensichtlich unwillige Rachel. Dann drehte er sich noch mal um und sah zu Porter, der gerade schrie: „Hey! Wohin wollen denn alle? Wir haben endlich Frauen in der Stadt – lasst uns feiern!“
„Er kann wirklich eine
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