Liebe ist stärker als der Tod
machte dem alten Fernand nur insoweit Spaß, als er nie daran dachte, sich ernsthaft zu verlieben oder gar zu heiraten.
Die Millionen der Chabras wurden in elf chemischen Fabriken zusammengekocht. Die ›Union de Chemie‹ beherrschte den Markt, füllte Frankreichs Exportkonto, saß in irgendeiner Form am Tisch eines jeden Franzosen – sei es, wenn er eine Konservendose aufschnitt (Konservierungsmittel), oder wenn er zufrieden in sein Brot biß (Mehlbleichmittel), oder wenn er harmlos den Löffel in die Marmelade tauchte (Fruchtfarbe). Chabras erhielt für seine Verdienste, die man überall sah, das rote Bändchen der Ehrenlegion ins Knopfloch gesteckt, und so blieb es nicht aus, daß das Leben des Sohnes Jules, so wüst es manchmal war, mit Schweigen zugedeckt wurde.
Im ›Château Aurore‹ begann an diesem 3. September der Tag wie jeder andere. James, der britische Butler (Myrna Chabras hatte extra sieben Wochen in London verbracht, um ihn aus neun Bewerbern auszusuchen), hatte das Personal aufmarschieren lassen, um die Sauberkeit der Kleidung und den frischen Mut für den beginnenden Tag zu kontrollieren. So standen sie jetzt alle in der großen Halle herum, blickten verstohlen auf die Uhr, musterten aus den Augenwinkeln James und warteten auf die vornehm-giftige Zurechtweisung, die mit Sicherheit kommen würde, wenn der Unpünktliche endlich erscheinen würde.
Es fehlte das Au-pair-Mädchen aus Deutschland, Eva Bader. Seit einem halben Jahr bei den Chabras, um im Kreise der Familie Französisch zu lernen … so hatte man es dem deutsch-französischen Studentenaustauschdienst (kein Franzose kann das aussprechen!) geschrieben. Als Eva Bader auf ›Château Aurore‹ eintraf, war sie überwältigt von dem Prunk. Überwältigt, vom ersten Augenblick an, war aber auch Jules Chabras … er traf Eva Bader in der großen Personalküche, wo sie mit den beiden Hausmädchen, dem Gärtner, dem Chauffeur, dem indonesischen Koch und Butler James aß. Der ›Kreis der Familie‹ war rein rhetorisch gemeint, Eva erkannte das sofort am ersten Tag, als Myrna Chabras sie empfing, ihr die Fingerspitzen reichte (immer dieses deutsche Händeschütteln!) und zu ihr sagte: »Sie werden sich bei uns wohlfühlen, Eva. James wird sich um Sie kümmern …«
»Wie kommt diese Orchidee unter euch Kaktusse!« rief am Abend Jules Chabras am runden Familientisch im Roten Salon. Er aß mit seiner Mutter allein … Fernand Chabras war wieder unterwegs zu einer seiner elf Fabriken. Dort fühlte er sich wohler und konnte in Hemdsärmeln durch die Produktionshallen gehen.
»Sie ist eine Deutsche«, antwortete Myrna Chabras. »Eine Studentin. Laß sie in Ruhe, Jules. Keine Affären im Haus, das hast du Papa und mir versprochen.«
Das war vor einem halben Jahr.
Wie kurz kann ein halbes Jahr sein … und wie unendlich in der Erinnerung.
Da war diese erste Juni-Nacht. Eva Bader hatte heimlich im Swimming-pool geschwommen, in völliger Dunkelheit, denn das Schwimmbad war für das Personal gesperrt. Hinter ihr lag das große Haus wie ein schlafendes Untier mit hundert geschlossenen Augen. Die Säulenhalle, auch Terrasse genannt, von der die geschwungenen breiten Freitreppen mit den steinernen Blumenvasen in den Rasenpark hinabführten, wirkte sie wie ein geschlossenes, aber dennoch fletschendes Riesengebiß.
Das waren die Stunden des Heimwehs … Eva Bader hatte es nie für möglich gehalten, daß es so etwas gab wie Sehnsucht nach einem Zuhause. Das Möbelgeschäft in Köln. ›In Bader-Möbeln wohnt sich's gut!‹ – ein Slogan, über den sie mitleidig gelächelt hatte, als er zwischen zwei Flaschen Bier und vier Doppelkorn in Hubert Baders Wohnzimmer geboren wurde. Das ist doch Käse, hatte sie gedacht. Das hat schon Staub angesetzt, bevor es überhaupt ans Licht kommt. Aber sie hatte geschwiegen. Zwischen ihrem Vater und ihr lagen 31 Jahre. Das merkt man, dachte sie oft, wenn sie Hubert Bader reden hörte. Er hat Ansichten wie ein Fossil … bald wird die Neuzeit ihn überrollen, und er merkt es gar nicht.
In diesen nächtlichen Stunden, draußen zwischen Bois de Boulogne und Versailles im Park eines Schlosses sah das Leben plötzlich anders aus. So vieles vermißte sie: Vaters Stimme, wenn er abends aus dem Geschäft kam und schon im Flur rief: »Else, hab' ich einen Brand! Gequatscht habe ich heute! Aber zwei Schrankwände sind dabei herausgesprungen, ein Schlafzimmer und eine Garnitur. Netto 22.000 DM! Nur das Beste vom Besten! Ein
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