Liebe oder so
Wir setzten uns.
„Wie geht’s denn dir, Alexander?“, fragte sie.
„Wie es mir geht? Nicht besonders gut, ich hab das Gefühl, mein Vater sei grad zum zweiten Mal gestorben.“
Sie nickte bedächtig , ihr Blick war in die Ferne gerichtet, dorthin, wo die Trauergemeinde stand. „Weißt du, dass er beinahe Rennfahrer geworden wäre?“
„ Ludwig? Nein, wusste ich nicht.“
„Er war damals Mechaniker bei NSU und immer d abei, wenn auf dem Nürburgring oder sonst irgendwo in der Nähe Rennen stattfanden. Er war für die Feinabstimmung zuständig und fuhr die Motorräder Probe, und einmal war er dabei schneller als später der eigentliche Werksfahrer.“
„Im Ernst?“
„Man wollte ihn als Ersatzfahrer einsetzen, ich weiß noch, wie aufgeregt er war, als er mittags nach Hause kam. Ich hatte damals solche Angst um ihn, dass wir deswegen furchtbar gestritten haben. Aber du kennst ja seinen Sturkopf, er wollte es unbedingt.“
Sie machte eine Pause. Der Pastor redete immer noch, e inige der Leute sahen zu uns rüber.
„Dann kam die Sache mit seinem Knie, und stattdessen wurde eben ein anderer Ersatzfahrer.“
„War sicher schlimm für ihn, oder?“, fragte ich.
„Ich glaube, er war letzen Endes genauso froh wie ich darüber, dass ihm die Entscheidung abgenommen worden war. Wenn er’s gemacht hätte, hätte er sich ein Leben lang mit meinem Sturkopf auseinandersetzen müssen.“
„Na, das musste er doch sowieso!“
Sie stieß mich mit dem Ellbogen an und lächelte dünn. Wahrscheinlich fragten sich die Trauergäste gerade, worüber wir sprachen. Von dort, wo wir saßen, war Sonjas Bauch deutlich zu sehen.
„ Wie weit ist Sonja jetzt eigentlich?“
„ Dreiundzwanzigste Woche.“
Ich versuchte, meine Finger beim Nachzählen aus dem Spiel zu lassen, schaffte es aber nicht.
„Wie viele Monate sind das?“
Helene drehte sich zu mir um und fuhr mir durchs Haar.
„Weißt du, was Ludwig über dich gesagt hat, als Sonja dich zum ersten Mal mit nach Haus gebracht hat? - Scheint ein bisschen weltfremd zu sein .“
„Ehrlich, das hat er gesagt?“ Ich steckte mir eine Zigarette an, es hatte mich schon genug Mühe gekostet, bis jetzt darauf zu verzichten.
„ Er mochte dich auf Anhieb“, sagte sie, „der Seitenhieb ging damals mehr gegen Sonja.“
„Wenn man vom Teufel spricht…“
Sonja kam auf uns zu, ihr Freund blieb unschlüssig auf halbem Weg stehen. Die Grabrede hatte immer noch kein Ende gefunden.
„Mama, du musst zurückkommen, die Leute werden ne rvös.“
Helene seufzte, stand aber auf und ging mit Richard zurück zum Grab. Sonja blieb bei mir stehen. Sie sah schlecht aus.
„ Na?“
Ich blies den Rauch bedächtig aus. „Ging schon mal be sser. Mit dir und dem Kind alles in Ordnung?“
Sie nickte. „Willst du mal fühlen?“
„Ich weiß nicht…“ Keine Ahnung, weshalb ich einen Blick in Richards Richtung warf, der Kerl konnte mir doch egal sein.
„Komm schon.“ Sonja drehte der Trauergemeinde den Rücken zu, und ich tastete mich vorsic htig vor. Ihr Bauch war heiß und stramm gespannt, ich hatte Angst, dass das Kind darin sich bewegte und mir ihren Nabel ins Auge schoss.
„Na?“ , wiederholte sie.
„Witzig“, sagte ich.
„Witzig?“
„Wann ist es denn so weit?“
„Ich hab nen Termin für Anfang November.“
„Was, so lange noch? Bist du sicher, dass du bis dahin nicht platzt?“
„Scherzkeks.“ Sie holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche und hielt ihn mir hin.
„Was ist das?“
„Ein paar Fotos von uns, die ich doppelt hatte. Vielleicht magst du sie ja, wenn nicht, schmeiß sie halt weg. Ich hab dir auch eins von Ludwig beigelegt, das wir für die Trauerkarten benutzt haben.“
„Danke.“
Für die Dauer eines Moments standen wir uns wortlos gegenüber, verbunden durch den Briefumschlag, den wir von zwei Seiten festhielten, und ich fühlte mich an den Abend erinnert, an dem sie mich zum ersten Mal nach ihrem Auszug besucht hatte. Die Stimmung zwischen uns war damals ähnlich diffuser Natur gewesen, und ich hatte sie zu küssen versucht. Der Fehler würde mir diesmal nicht passieren, aber ich hätte um der alten Zeiten wegen gerne irgendwas Nettes gesagt.
„ Na komm, lass uns wieder zu den anderen gehen“, meinte sie.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, sofort wieder nach Dortmund zurückzufahren. Da ich aber mit Carolin sprechen wollte, blieb ich noch zum Kaffee, für den man gleich nebenan im Pfarrheim gedeckt hatte. Die Trauergemeinde
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