Liebe Unbekannte (German Edition)
hatte keinerlei Vorahnung in dieser Nacht: Um zwei schlief ich über dem Sonnenkönig ein. Seitdem muss ich beim Sonnenkönig stets an den Tod von Éva Viola Dévai denken.
Der Fußweg von der Innenstadt nach Nyék beträgt gute dreieinhalb Stunden. Das Wetter war im Vergleich zur vorhergehenden Nacht milder geworden, Gábor und ich konnten das Kelterhäuschen leicht beheizen. Danach lauschten wir dem unterirdischen Fluss. Das Geräusch erinnerte tatsächlich an ein Herzklopfen. Mit diesem Herzklopfen endete für uns der Bibliotheksball.
Jedoch nicht für alle. Der Osteuropaexperte Michael J. L. Prescott blieb am Ende des Balls beinah völlig allein in der Bródy zurück. Es war kühl, denn jemand hatte die Fenster geöffnet, um zu lüften. Er erwachte auf einem Stuhl. Im Saal liefen noch ein paar Leute herum. Er stand auf und lief ebenfalls herum. Er ging auf den Balkon hinaus, wo er zwei dunkle Gestalten entdeckte, die am Geländer standen und rauchten. Dervis und Gyuri Keszi. Sie waren ebenfalls kurz zuvor erwacht. Sie zitterten vor Kälte. Er bat sie um Feuer und hörte ihnen zu. Er lauschte dem Klang der ungarischen Sprache.
„Was habe ich dir gesagt, Gyuri? Wir würden hierher hinausgedrängt werden. Man würde uns an den Rand drängen. Und was ist passiert? Genau das.“
Er grinste Michael an.
„Und hier ist ein Vertreter der siegreichen Unterart.“
Michael grinste zurück.
„Es ist alles im Kleinen da. Es ist alles im Kleinen da“, murmelte Gyuri Keszi.
Das sagte er noch einige Male, wobei ihm die Zähne klapperten und er dazu nickte. Er dachte daran, dass sich auf dem Ball wieder die Urwanderung der menschlichen Unterarten abgespielt hatte, und die schwachen Unterarten von den starken erneut an die Peripherie gedrängt worden waren. Denn alles, was sich im Großen abspielte, spielte sich auch im Kleinen ab. Dervis hatte recht gehabt.
Es ist alles im Kleinen da
. Das war der erste Satz, den Michael auf Ungarisch lernte, und es klang auch schön, wie er es sagte. Er verliebte sich in die Sprache, zog her, arbeitete in einer Kneipe hinterm Tresen, heiratete eine Ungarin (Erika), schrieb einen alternativen (erfolglosen) Reiseführer über Ungarn mit dem Titel
Der umgedrehte Eiserne Vorhang
. Der Protagonist dieses Buches (ein englischer Reisender) besitzt einen sogenannten Mitfühlapparat, mit dessen Hilfe er sich in die Lage der Einheimischen versetzen kann. Der Misserfolg des Buches nahm ihn nicht weiter mit. Er wurde erwachsen und gliederte sich in die Gesellschaft ein. Er wurde Creative Director und mein Chef, da er mich in die Werbeagentur holte, deren Creative Director er geworden war. Eigentlich war er gar nicht mein Chef: Wir waren eher Kollegen. Kleine Schrauben in der großen Maschinerie. Wir arbeiteten gemeinsam an der friedlichen Einschläferung der menschlichen Rasse. Das ist jedoch eine andere Geschichte, die
Große Geschichte
.
Und auf dem Felsen fand das lange Schweigen (elf Monate nach dem Ball) ein Ende. Das Thema
Emma Olbach
schien ausgeschöpft. Außerdem wussten wir zu dieser Zeit nur so viel über sie, was Emőke Széles gehört hatte: Sie habe in ihrem Jurastudium eine Pause von einem Jahr eingelegt und sei mit dem jungen namenlosen Psychiater nach Amerika gegangen, der ein Stipendium an einer jungen namenlosen amerikanischen Universität erhalten habe, und sie würden mit Sicherheit dort bleiben, was Emma jedoch auch nicht helfen werde.
„Das ist mehr als Feigheit“, sagte Kornél keinen Widerspruch duldend, da er Emma grollte. „Sie würde gut zu dir passen“, sagte er zu mir, wandte sich dann jedoch wichtigeren Dingen zu.
„Passt auf: Emőke hat mit ihrer Cousine gesprochen. Es ist alles in Ordnung. Sie erwarten uns.“
„Also auf mich können sie lange warten“, sagte Gábor. „Ich bin völlig blank.“
„Das haben wir schon einmal geklärt“, antwortete Kornél geduldig. „Wenn sie sagen, sie erwarten uns, dann bedeutet das auch, dass sie die Flugtickets bezahlen. Auch für euch beide.“
Ich war überrascht, denn bisher hätte ich im Traum nicht daran gedacht, Kornéls Plan, nach Argentinien zu reisen, ernst zu nehmen. Gábor ging es ähnlich.
„Sieh mich nicht so an, als hätte ich das noch nie gesagt. Sie sind nicht arm. Drei Flugtickets zu bezahlen, tut ihnen nicht weh. Und wir arbeiten das in einem Monat ab.“
„Und die Visa?“
„Die Maschine fliegt von Paris aus los. Ihr braucht ein französisches Visum.“
Kornél hatte vom
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