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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmondo de Amicis
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offen stehenden Tür ganz ausfüllte.
    «Alles in allem», sagte der Maestro mit Blick auf die Tür, nachdem sie verschwunden war, «kann man nicht behaupten, dass Don Celzani Tomaten auf den Augen hat.»
    Mit einem schlauen Lächeln versetzte seine Frau: «Noch hat er sie nicht geheiratet.»
    Der Sekretär verbrachte diesen ganzen Tag und auch den folgenden Morgen in qualvoller Ungewissheit, ob er eine schriftliche Antwort abwarten oder sich ein Herz fassen und sie mündlich erbitten sollte. Schließlich fasste er sich ein Herz, und um Viertel vor zwei, genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Maestra, wie er wusste, sonntags allein in den Turnsaal ging, nahm er hinter seiner Wohnungstür Aufstellung und spähte durch das Schlüsselloch, um sie auf dem Treppenabsatz zu sehen. Wer ihn in dieser Haltung erblickt hätte, hätte meinen können, er liege auf der Lauer, um einen Mord zu begehen, so erregt war er am ganzen Leib und so mühsam war seine Atmung. Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren, er streckte den Kopf hinaus, zog ihn aber gleich wieder zurück: Es war nur der alte Professor Padalocchi, der, eingehüllt in seinen dicken, pelzgefütterten Mantel, ganz gebeugt und hustend zu seinem üblichen Gesundheitsspaziergang aufbrach. Einen Augenblick später hörte er die Schritte der Pedani. Großer Gott! Die Gelegenheit war vertan. Auf dem Treppenabsatz holte die Maestra den Alten ein, der sie laut begrüßte, blieb stehen und fing ein Gespräch mit ihm an. Jedes Wort ihrer Unterhaltung fiel wie ein enormes Gewicht auf das Herz des armen Verliebten. Signor Padalocchi klagte über neue Beschwerden: Seine Atmung war eingeschränkt.
    «Warum», fragte ihn die Pedani, «machen Sie nicht ein wenig Lungengymnastik?»
    Er lächelte, sie beharrte auf ihrer Meinung. «Ich sage das im Ernst. Es gibt nichts Besseres, um die Brust zu weiten. Versuchen Sie, jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen mehrmals lang und tief ein- und auszuatmen … so.»
    Sie machte es vor, und dem Sekretär schoss das Blut in den Kopf.
    «Zunächst zehn oder zwanzig Atemzüge», fuhr die Maestra fort, «und fügen Sie jeden Tag zehn hinzu, wenn Sie können. Ich versichere Ihnen, nach zwei Wochen werden Sie sich bedeutend besser fühlen. Die Wirkung dieser Übung ist unfehlbar. Ich mache jeden Morgen hundertdreißig.»
    Der Professor schien überzeugt und bedankte sich bei ihr.
    «Versuchen Sie es», wiederholte die Pedani, «dann sprechen wir uns wieder. Und … ich werde Ihnen ein Buch leihen, das alle Anleitungen enthält. Auf Wiedersehen!» Nach diesen Worten beschleunigte sie ihre Schritte.
    Der Sekretär hoffte, aus der Art, wie sie im Vorübergehen seine Wohnungstür ansah, ein wenig von ihrer Seelenlage erraten zu können; doch sie lief vorbei, ohne die Tür anzuschauen. Das bestürzte ihn. Trotzdem war noch Zeit, sie am Hauseingang einzuholen, und sei es auch nur, um ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen. Doch als er hinausstürzte, schallte es ihm entgegen: «Oh, liebster Sekretär!» Großer Gott! Das war Ingenieur Ginoni, der kam, um den Hausherrn, seinen alten Freund, für den Abend zu einer kleinen Familienfeier zu bitten, die er wie jedes Jahr zum Geburtstag seiner Zwillinge veranstaltete. Auch der zweite Versuch war fehlgeschlagen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Urteil mit der Post zu erwarten.
    An diesem Abend waren nur wenige Leute bei den Ginonis versammelt. Professor Padalocchi hatte nicht kommen können, die Zibelli hatte nicht gewollt, der Hausherr ließ sich nicht blicken: Rund um einen großen ovalen Tisch im Esszimmer, bedeckt von Schalen mit süßem Gebäck und Flaschen sardischen und sizilianischen Weins, saßen nur die Familie, die Maestra Pedani und drei kleine Freundinnen der Tochter samt ihrer Großmutter, die am anderen Treppenaufgang wohnten. Aber die Jugend, die in der Überzahl war, verlieh dieser Versammlung Anmut und Fröhlichkeit. Im warmen Licht einer großen, alles vergoldenden Gaslampe bildeten ihre blonden Köpfe einen schönen Kranz. Die Tochter, an der «Scuola Margherita» Gymnastikschülerin der Pedani, war dreizehn Jahre alt und schien das Ebenbild des jüngeren Sohnes, ihres Zwillingsbruders, der die dritte Klasse des Gymnasiums besuchte. Der ältere Sohn – Alfredo –, einundzwanzig Jahre alt, Student der Mathematik an der Universität und ein ausgezeichneter Velozipedfahrer 16 , war ein forscher blonder Kerl mit zwei schönen, boshaften Augen und bereits blasiert wie ein Mann mit

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