Liebe und Gymnastik - Roman
auszudrücken, dass es da keinen Zweifel geben könne.
«Der Sekretär ist ja verrückt», sagte die Fassi mit kaum verhohlener Geringschätzung. «Ja … und sie?»
«Sie», erwiderte die Zibelli, «spielt vorerst die Gleichgültige. Aber sie wird hundertmal Ja sagen, wieder und wieder.»
«Pah!», rief die Signora nach einem Moment des Nachdenkens. «Signor Celzani wird sich das auch noch ein paarmal überlegen.»
«Aber was soll der denn schon überlegen, Don Celzani!», gab die Zibelli zurück; in der Gewissheit, dass ihre Saat auf fruchtbaren Boden fallen würde, warf sie wie nebenbei einige Bemerkungen hin, die die andere aufnahm und in den tiefsten Tiefen ihres Gedächtnisses verwahrte. «Don Celzani ist naiv; für ihn sind eine Frau von dreißig und ein Mädchen von fünfzehn ein und dasselbe. Weil er die Welt nicht kennt, meint er, es kennt sie auch sonst niemand. Ich wette, er weiß nicht einmal, dass Maria, bevor sie nach Turin kam, bereits in einem halben Dutzend Gemeinden Lehrerin war.» Sie lachte. «Und die Abenteuer der Lehrerinnen auf den Dörfern sind ja bekannt; sogar die Zeitungen haben über sie geschrieben. Da war so eine Geschichte mit einer Kompanie Bersaglieri, Donnerwetter! Ach! Es gibt wirklich Originale auf dieser Welt!» Und mitgerissen von ihrer Wut, war sie schon im Begriff, Schlimmeres zu sagen, als man ein lautes Klingeln hörte. Die Kinder verstummten schlagartig, die Signora lief, um aufzumachen, und Maestro Fassi trat ein, sehr erregt, die «Gazzetta di Torino» in der Hand. Er kam eben aus Chieri zurück, wohin er zweimal in der Woche fahren musste, um dort am Lyzeum und an der Realschule Turnunterricht zu geben.
Er begrüßte die Zibelli flüchtig, wandte sich an seine Frau und wies auf die Zeitung in seiner Hand: «Willst du das Neueste wissen? So ein Esel von einem Tanzlehrer veröffentlicht da einen Artikel in der ‹ Gazzetta di Torino › ! Er ist beleidigt, weil ich letzte Woche im ‹ Agone › geschrieben habe, der Tanz sei ein Zweig der Gymnastik! Also weißt du, das ist doch wirklich die Höhe! Und dabei habe ich dieser Pirouettenkunst damit noch eine Ehre erwiesen, die sie gar nicht verdient. Na, den werd ich in einem Gegenartikel aber schön zurechtstutzen, du wirst schon sehen, dem werd ich’s zeigen, diesem eingebildeten Hopsemeister.» Und er sprach weiter, entwarf seine Erwiderung und drehte dabei Runden durchs Zimmer. «Es wird Zeit, dass jemand diesen Ignoranten einmal klipp und klar die Meinung sagt. Sie machen nicht den geringsten Unterschied zwischen einem Gymnastiklehrer und einem Zirkusakrobaten. Aber ein Gymnastiklehrer ist ein Mann der Wissenschaft, meine Herrschaften! Er muss sich in theoretischer Gymnastik auskennen, in angewandter Anatomie, in Pädagogik, Hygiene, Geschichte der Gymnastik, in Bauweise und Anlage von Geräten und Turnsälen, in Technologie – er muss ein Künstler sein! Idioten, die sie sind, wissen sie nicht, dass man ein Menschenleben braucht, bloß um all die Übungen zu erlernen und dann zu behalten … dass man hundert Bücher allein über die Aufstellung von Geräten schreiben könnte … Und dann, schaut her, zu welchen Mitteln ein Gymnastiklehrer greifen muss!» Und er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, auf dem er sich von einem Mathematiklehrer aus Chieri mit Hilfe algebraischer Formeln die Zahl der möglichen Stellungswechsel bei Übungen mit den Stöcken hatte ausrechnen lassen.
Das war seine große Manie: die Gymnastik so komplex und schwierig zu machen wie möglich, nicht nur in der Vorstellung anderer, sondern auch in der eigenen. Im Unterschied zur Pedani war für ihn das Wohl der Menschheit überhaupt kein Ideal: Er liebte seine Wissenschaft, der Befriedigungen wegen, die er für sich darin fand und die sich sein Stolz davon erhoffte. Außer in Chieri unterrichtete er an der Realschule von Carmagnola, an einem Gymnasium und einem Lyzeum in Turin, bei der Handwerkerjugend und in der Gesellschaft für Gymnastik, und überall bemühte er sich, seine Ideen zu verbreiten. Die erste Nation auf der Welt wird diejenige sein, hatte ein großer Mann gesagt, die am gesündesten ist, mit anderen Worten, die am meisten Gymnastik treibt. Der Erlangung dieses Wissens, setzte er hinzu, sollten die vereinten Bemühungen aller großen Denker, der Regierungen und der Gesellschaft insgesamt dienen. Es sollte allen Wissenschaften vorangestellt werden, und der Stand der Gymnastiklehrer sollte der Adel der Nation werden. Unterdessen
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