Lieben: Roman (German Edition)
während ich nach ihr rief.
»Ich bin doch hier «, sagte sie und winkte mit den Armen.
»Vanja?«, sagte ich. »Wo bist du? Komm sofort heraus, das ist nicht mehr lustig.«
»Ich bin hier! Hier!«
»Vanja …?«
»Kannst du mich wirklich nicht sehen? Bin ich wirklich unsichtbar?«
Sie klang unendlich zufrieden, gleichzeitig ahnte ich jedoch auch einen Anflug von Sorge in ihrer Stimme. Im selben Moment begann John zu schreien. Ich schaute hinauf. Linda stand mit John an sich gedrückt auf. Es war gar nicht seine Art, so zu schreien.
»Ah, da bist du ja!«, sagte ich. »Bist du die ganze Zeit schon hier gewesen?«
»Ja-a«, sagte sie.
»Hörst du, dass John weint?«
Sie nickte und schaute hinauf.
»Dann müssen wir gehen«, sagte ich. »Kommt.«
Ich griff nach Heidis Hand.
»Will nicht«, sagte sie. »Will nicht an die Hand.«
»Dann eben nicht«, sagte ich. »Aber dann setz dich in den Wagen.«
»Will nicht Wagen«, erwiderte sie.
»Soll ich dich lieber tragen?«
»Will nicht tragen«, sagte sie.
Ich ging hinunter und holte den Wagen. Als ich zurückkam, war sie auf den Zaun geklettert. Vanja hatte sich auf die Erde gesetzt. Auf der Hügelkuppe hatte Linda mittlerweile das Restaurant verlassen, stand auf dem Weg, blickte hinunter und winkte uns mit der freien Hand zu sich. John schrie noch immer.
»Ich will nicht gehen«, sagte Vanja. »Meine Beine sind müde.«
»Du bist doch den ganzen Tag kaum ein paar Meter gegangen«, sagte ich. »Wie kannst du da müde Beine haben?«
»Ich habe keine Beine. Du musst mich tragen.«
»Nein, Vanja, was ist das denn für ein Unsinn. Ich kann dich nicht tragen.«
»Doch.«
»Setz dich in den Wagen, Heidi«, sagte ich. »Dann gehen wir zum Reiten.«
»Will nicht Wagen«, sagte sie.
»Ich habe keine Beeeiiine!«, sagte Vanja. Das letzte Wort schrie sie.
In mir blitzte Wut auf. Der Impuls, die beiden hochzuheben und unter die Arme geklemmt zu tragen. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass ich mit ihnen zappelnd und schreiend unter den Armen gegangen war, ohne den Passanten gegenüber auch nur eine Miene zu verziehen, die uns immer interessiert anglotzten, wenn wir unsere Szenen hatten, als trüge ich eine Affenmaske oder etwas in der Art.
Diesmal gelang es mir jedoch, mich zu beherrschen.
»Könntest du dich dann bitte in den Wagen setzen, Vanja?«, sagte ich.
»Wenn du mich hochhebst«, sagte sie.
»Nein, das musst du schon alleine machen.«
»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe keine Beine.«
Wenn ich nicht nachgab, würden wir bis zum nächsten Morgen dort stehen bleiben, denn obwohl Vanja keine Geduld hatte und schon beim geringsten Widerstand aufgab, war sie unendlich stur, wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen.
»Okay«, sagte ich und hob sie in den Wagen. »Du gewinnst mal wieder.«
»Wieso gewinnen?«, sagte sie.
»Vergiss es«, erwiderte ich. »Kommt jetzt, Heidi, wir gehen.«
Ich hob sie vom Zaun herunter und nach zwei, drei halbherzigen Nein, will nicht, waren wir auf dem Weg den Hügel hinauf, Heidi auf meinem Arm, Vanja im Kinderwagen. Unterwegs hob ich Heidis Stoffmaus auf, staubte sie ab und legte sie ins Netz.
»Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, sagte Linda, als wir oben ankamen. »Auf einmal fing er an zu weinen. Vielleicht ist er von einer Wespe gestochen worden oder so. Schau mal …«
Sie zog den Sweater über seinen Bauch und zeigte mir ein kleines rotes Mal. Er zappelte in ihrem Griff und vom vielen Schreien war sein Gesicht rot angelaufen und die Haare waren feucht geworden.
»Armer kleiner Junge«, sagte sie.
»Ich bin von einer Bremse gestochen worden«, sagte ich. »Vielleicht hat ihn ja auch eine erwischt. Setz ihn in den Wagen, dann gehen wir. Im Moment können wir ohnehin nichts tun.«
Als er angeschnallt war, wand er sich und bohrte schreiend den Kopf in den Stoff.
»Sehen wir zu, dass wir zum Auto kommen«, sagte ich.
»Ja«, sagte Linda. »Aber vorher muss ich ihm noch eine neue Windel machen. Da unten gibt es einen Wickelraum.«
Ich nickte, und wir gingen los. Seit unserer Ankunft waren bereits einige Stunden vergangen, die Sonne stand nicht mehr besonders hoch, und etwas an dem Licht, mit dem sie den Wald füllte, erinnerte mich an die Sommernachmittage zu Hause, als wir entweder mit Mutter und Vater zur Meerseite der Insel fuhren, um schwimmen zu gehen, oder allein zu der felsigen Landzunge im Sund unterhalb unserer Siedlung. Für Sekunden war ich von meinen Erinnerungen erfüllt,
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