Annebelle - sTdH 2
Erstes Kapitel
Das einzige Anzeichen
dafür, daß die Familie Armitage langsam begann, den Schuldenberg abzutragen,
der sie im Vorjahr beinahe erdrückt hatte, waren zwei neue, prachtvolle
Jagdpferde im Stall von Hochwürden Charles Armitage und mehrere neue Jagdhunde
bester Rasse in seiner Meute.
Noch immer
wurde im Pfarrhaus eisern gespart. Zu den Mahlzeiten gab es die preiswertesten
Fleischstücke, und die Kleider wurden weiterhin gewendet, geändert und
vererbt.
Der Vikar
von St. Charles and St. Jude im Dorf Hopeworth hatte acht Kinder – sechs
Töchter und zwei Söhne, die Zwillinge waren. Seine älteste Tochter Minerva,
inzwischen zwanzig Jahre alt, hatte erst vor einem Monat ihre Verlobung mit
Lord Sylvester Comfrey bekanntgegeben, dem jüngsten Sohn des Herzogs von
Allsbury. Die Armitage-Sippe hatte irgendwie gehofft, die bevorstehende noble
Verbindung würde auf der Stelle Gold in die Truhen des Pfarrhauses strömen
lassen. Doch obwohl Lord Sylvester und sein Freund Peter, Marquis von
Brabington, dem Vikar großzügig Geld geliehen und Lord Sylvester ihm seinen
Verwalter zur Verfügung gestellt hatte, damit die Güter der Pächter unter
sachkundiger Leitung ertragreicher würden, machten sich keine unmittelbaren
Anzeichen steigenden Wohlstandes bemerkbar.
Der Vikar
hatte erklärt, das Geld müsse so bald wie möglich zurückgezahlt werden, nicht
nur an den Verlobten seiner Tochter und den Marquis, sondern auch an Lady
Godolphin – es handelte sich dabei um die Auslagen, die die Lady gehabt hatte,
um Minerva in die Gesellschaft einzuführen.
Den Zwillingen
Peregrine und James, zehn Jahre alt, war zwar die zukünftige Erziehung in Eton
sicher, doch für die Mädchen und Mrs. Armitage ging das Leben ziemlich
unverändert so weiter, wie es vor Minervas
Verlobung gewesen war.
Weihnachten
verlief ruhig. Minerva sollte im März heiraten, und ihre jüngeren Schwestern
bettelten schon jetzt tränenreich um neue Kleider für die Hochzeit.
Neben
Minerva waren da noch Annabelle, siebzehn Jahre alt, Deirdre, fünfzehn,
Daphne, vierzehn, Diana, dreizehn, und die zwölfjährige Frederica.
Annabelle,
die nächste nach Minerva, litt unter einem nagenden Gefühl von
Unzufriedenheit, das aber nichts mit den beengten Verhältnissen ihrer Familie
zu tun hatte – sie hatte sich auf den ersten Blick in den Verlobten ihrer
Schwester, Lord Sylvester Comfrey, verliebt.
Daß der
Freund Seiner Lordschaft, der Marquis von Brabington, sie bewunderte, hatte
Annabelle zwar bemerkt, aber rasch als unwichtig abgetan.
Dabei war
anfangs er derjenige gewesen, um den sich ihre Träume gedreht hatten. Er war im
Pfarrhaus abgestiegen und hatte erklärt, er und Lord Sylvester Comfrey wollten
der verarmten Familie dadurch aus ihrer mißlichen Lage helfen, daß sie die
Ländereien des Vikars wieder zu einträglicher Blüte brächten. Der Marquis
räumte dem Vikar einen großzügigen Kredit ein und machte sich dann daran, die
Herzen der Familie im allgemeinen und das Annabelles im besonderen zu erobern.
Er wanderte mit ihr durch das Dorf und die Umgegend und gab mit jedem Blick und
jeder Geste zu verstehen, eine engere Beziehung stünde unmittelbar bevor. Nur
widerstrebend reiste er schließlich ab und erklärte Annabelle, er müsse zu
seinem Regiment zurückkehren. Er hoffe aber, so bald wie möglich wieder bei ihr
zu sein.
Doch dann
war Minerva überraschend aus London zurückgekommen, und Lord Sylvester war ihr
gefolgt und hatte um ihre Hand angehalten. Ein Blick auf Lord Sylvester hatte
genügt, um die stolze Erinnerung an den Marquis von Brabington in Annabelles
hübschem Kopf verblassen und schließlich ganz erlöschen zu lassen.
Jede ihrer
wachen Minuten schien nun von Gedanken an Lord Sylvester erfüllt. Sie hatte
ihn seit seinem eindrucksvollen Besuch, bei dem die Verlobung bekanntgegeben
wurde, nicht mehr gesehen. Minerva und Mrs. Armitage waren für einen Monat zu
seinen Eltern gereist. Die Abwesenheit Lord Sylvesters aber steigerte
Annabelles Liebe zu
ihm zur Besessenheit. Sie war fest davon überzeugt, er begehe einen
schrecklichen Fehler. Minerva war nicht die richtige Frau für ihn.
Minerva war
streng und prosaisch. Wie sie es geschafft hatte, einen stürmischen und
gutaussehenden Lebemann wie Comfrey einzufangen, überstieg Annabelles
Vorstellungskraft. Gewiß, Minerva war sehr schön mit ihrem schwarzen Haar und
den großen, klaren grauen Augen. Doch Annabelle wußte, daß sie selbst ebenfalls
eine Schönheit war.
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