Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn
werden. Ich höre meine Kollegen nicht mehr sprechen, sondern schreien.
Ich brauche Luft, mehr Raum.
Dann vernehme ich die Worte, die diese schöne Stimme spricht und die mein Leben für immer verändern:
»Die Zeit ist jetzt gekommen, Sergio, du weißt es. Du hast die Wahl: Entweder du schließt für den Rest deines Lebens einen Vertrag nach dem anderen ab und lebst ein Leben, das eigentlich nicht für dich bestimmt war, oder du findest zurück zu deinen Wurzeln, zu deinem wahren Kern. Manchmal hat man so eine Erleuchtung nur einmal im Leben. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Jetzt oder nie.«
Der Rest ist vage, ich erinnere mich, dass Richard mit einem Glas Wasser kam und fragte, ob alles in Ordnung sei. Mein Hemd war schweißnass.
Mit letzter Kraft sagte ich zu Richard: »Ich muss hier raus. Kannst du das Meeting bitte an meiner Stelle zu Ende bringen?«
»Klar, wie du willst. Soll ich einen Arzt holen?«
»Nein, bring einfach nur diese Sitzung zu Ende. Bitte! Wir treffen uns in einer Stunde in der Hotellobby.«
»Keine Sorge, Sergio, mach dich ein bisschen frisch, du schwitzt ja fürchterlich!«
Alles Weitere sehe ich nur mehr verschwommen vor mir. Ich schleppte mich irgendwie aus dem Raum und rannte zum Hotel. Ich rannte, so schnell ich konnte. Die Leute glotzten mich an. Ich lief auf eine Hotelangestellte zu und fragte sie nach dem Business Center.
»Geradeaus und an der zweiten Ecke links. Sie stehen dann direkt davor.«
Sie sah mich an. »Alles in Ordnung?«
»Nein, gar nichts ist in Ordnung. Aber danke.«
Ich rannte weiter, es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich endlich die Räume fand. Eine schöne Dame bot mir besorgt ihre Hilfe an.
»Danke«, sagte ich. »Ich brauche einen Stift, Papier und ein Faxgerät.«
Im nächsten Moment saß ich auch schon an einem Tisch. Meine Hände zitterten. Ich schlotterte. Ich schrieb ein paar Worte, unterzeichnete und notierte eine Faxnummer auf dem Brief. Dann ging ich wieder zu der Dame.
»Können Sie dieses Schreiben gleich an diese Nummer in Sydney faxen?«, fragte ich.
»Natürlich, Sir. Es dauert nur eine Minute.«
»Würden Sie mir bitte einen Scotch auf Eis bringen lassen, während ich warte?«
»Aber sicher.«
Umgehend brachte eine Kellnerin ein Glas mit Eiswürfeln und eine Flasche Johnnie Walker Blue Label. Sie goss die Flüssigkeit ins Glas.
Ich hörte, wie das Faxgerät arbeitete, während die Kellnerin immer weiter einschenkte. Sie sah mich an, damit ich ihr ein Zeichen gab, wann sie aufhören sollte.
»Machen Sie nur weiter«, sagte ich.
Mit sichtlich besorgter Miene fuhr sie schweigend fort, bis das Glas voll war.
»Bar oder mit Karte?«, fragte sie.
Ich zog einen Hunderter aus der Brieftasche.
»Der Rest ist für Sie.«
Nachdem ich das Glas in einem Zug geleert hatte, kam die Dame aus dem Business Center zu mir.
»Hier ist die Faxbestätigung.«
»Danke.« Ich nahm den Zettel und rannte hinaus. Ich hatte zwar noch immer das Gefühl, keine Luft zu bekommen, aber die Angst verflog langsam. Ich sah mich nach dem Aufzug um. In der Kabine drückte ich den Knopf für das Erdgeschoss. Der Aufzug fuhr schnell, aber ich wollte nur noch raus, ich brauchte mehr Raum um mich herum!
Endlich öffnete sich die Aufzugstür. Ich stürzte aus der Kabine, rannte zum Ausgang und stieß die Glastür des Gebäudes auf. Draußen setzte ich mich auf eine Bank mit Blick auf die Küste von Singapur und das Meer vor mir. Ich fing an zu weinen wie ein kleiner Junge.
In dem Fax hatte ich soeben der Geschäftsleitung meine Kündigung mitgeteilt.
irgendwie verstehe ich immer noch nicht, wieso wir Menschen immer miteinander wetteifern – in Bezug auf die Größe unseres Hauses, des Wagens, ja sogar wegen unserer Hautfarbe. Das ist der Anfang der Misere. Leute mit einem größeren Haus als der Nachbar halten sich für etwas Besseres – nicht alle, aber die meisten. Ein Arzt ist grundsätzlich besser gestellt als ein Musiker, und am Ende der Leiter steht natürlich der Müllmann. Dann hört man Begriffe wie Kopf- und Handarbeiter , Arbeiter und Angestellte . Der Kopfarbeiter fühlt sich überlegen, weil er mehr Geld verdient, und wer mehr Geld hat, kann sich mehr leisten, kann eine bessere Ausbildung genießen, kann sich ein schöneres Leben machen und in den Urlaub fahren, wann er will …
Ich habe genau vierunddreißig Jahre gebraucht, bis ich begriffen habe, dass das alles gelogen ist. Es sind die Lügen der Erwachsenen. Wenn ich mich
Weitere Kostenlose Bücher