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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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Deinen Reisen vielen angenehmen Familien begegnen; kannst Du nicht einige zwingen, Kinder anzunehmen? Vor allem Buben. Wir haben einen Haufen überzählige Buben, die keiner will. Was heißt da Anti-Feminismus! Er ist nichts gegen den Anti-Masculinismus, der in der Brust adoptionswilliger Eltern herrscht. Ich könnte eintausend kleine Mädchen mit Grübchen und gelben Haaren unterbringen, aber ein rechter lebendiger Bub zwischen neun und dreizehn ist ein reiner Ladenhüter. Es scheint eine allgemeine Überzeugung zu bestehen, daß Buben im Schmutz waten und Mahagonimöbel zerkratzen.
    Meinst Du nicht, daß Herren-Klubs Knaben als eine Art Maskottchen adoptieren könnten? So ein Bub könnte bei einer netten respektablen Familie in Pension gegeben und am Samstagnachmittag von den verschiedenen Mitgliedern geholt werden. Sie könnten ihn zum Fußball und in den Zirkus mitnehmen und ihn zurückbringen, wenn sie genug von ihm haben, wie ein Buch aus der Leihbibliothek. Es wäre eine sehr wertvolle Erziehung für Junggesellen. Die Leute reden immer davon, wie nötig es wäre, Mädchen fürs Mutter-Sein auszubilden. Warum nicht einen Ausbildungskurs fürs Vater-Sein einrichten und die besten Männer-Klubs dazu bringen, sich zu beteiligen? Bitte sorge dafür, daß Jervis in seinen Klubs dafür agitiert, und ich werde sehen, daß Gordon die Sache in Washington betreibt. Die beiden sind Mitglieder von so vielen Klubs, daß es möglich sein sollte, mindestens ein Dutzend Buben unterzubringen.
    Ich verbleibe
    die dauernd beunruhigte Mutter von 113.
    S. McB.

John-Grier-Heim,
    18. März.
    Liebe Judy!
    Ich hatte eine angenehme Erholung von den 113fachen Sorgen des Mutter-Seins.
    Wer ist gestern in unserem friedlichen Dorf angekommen? Mr. Gordon Hallock auf seinem Rückweg nach Washington, wo er die Sorgen der Nation wieder auf sich lädt. Er hat zwar gesagt, es liege auf seinem Weg; aber ich sehe auf der Karte in der Unterklasse, daß es mindestens hundert Meilen von seinem Weg abliegt.
    Ach, wie froh war ich, ihn zu sehen! Es war der erste Blick in die Außenwelt, seit ich in dieser Anstalt gefangensitze. Und er plauderte von so vielen unterhaltsamen Dingen! Er kennt den inneren Kern aller äußeren Dinge, die man in der Zeitung liest; soweit ich beurteilen kann, ist er der gesellige Mittelpunkt, um den sich Washington dreht. Ich wußte schon immer, daß er in der Politik Erfolg haben werde, denn er hat etwas an sich; da gibt es keinen Zweifel.
    Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie vergnügt und aufgekratzt ich bin, als sei ich nach einer Periode gesellschaftlicher Verfemung wieder in meine Rechte eingesetzt. Ich muß gestehen, daß ich mich nach jemandem sehne, der meine Art Unsinn redet. Betsy geht jedes Wochenende nach Hause, und der Doktor ist gesprächig genug, aber, ach, auch so furchtbar logisch! Gordon steht irgendwie für das Leben, dem ich zugehöre--Landklubs und Autos und Tanzereien, und Sport und Höflichkeit--- wenn Du
    willst, ein armseliges, törichtes, lächerliches Leben, aber eben das meinige. Diese Sache mit dem Der-Gesellschaft-Dienen ist theoretisch bewundernswert und zwingend, aber tödlich langweilig, wenn man an die Einzelheiten der Arbeit geht. Ich fürchte, daß ich nicht dazu bestimmt bin, das Krumme gerade zu machen.
    Ich habe versucht, Gordon herumzuführen und ihn für die Babys zu interessieren, aber er weigerte sich, auch nur hinzusehen. Er glaubt, ich sei nur hierhergekommen, um ihn zu ärgern, was ja auch stimmt. Dein Sirenenruf allein hätte mich nie vom Pfad der Vergnügungen fortgelockt, wenn Gordon nicht so unangenehm belustigt gewesen wäre über den Gedanken, daß ich ein Waisenhaus leiten könnte. Ich kam hierher, um ihm zu zeigen, daß ich es kann. Und nun, da ich es ihm beweisen kann, lehnt das Ekel ab, hinzuschauen.
    Ich lud ihn zum Essen ein und warnte gleichzeitig vor den Kalbfleischschnitten. Er sagte, nein, danke, aber ich hätte eine Abwechslung nötig. So gingen wir zu gebratenem Hummer ins Gasthaus Brantwood. Ich hatte völlig vergessen, daß die Tiere überhaupt genießbar seien.
    Heute früh um sieben Uhr wurde ich durch das schrille Läuten des Telefons geweckt. Es war Gordon am Bahnhof vor der Weiterreise nach Washington. Er war wegen der Anstalt in reumütiger Stimmung und hat sehr um Entschuldigung gebeten, weil er sich geweigert hatte, meine Kinder anzusehen. Es sei ja nicht so, daß er Waisen immer ablehne, sagte er; er lehne sie nur im Zusammenhang mit mir ab. Und

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