Lieber Feind
unserer medizinischen Untersuchung etwa die Hälfte der Kinder aenemisch — aneamisch — anaemisch (Himmel, was für ein Wort!) ist, und viele haben tuberkulöse Vorfahren, und noch mehr welche, die Trunksüchtige waren. Sie brauchen Sauerstoff viel nötiger als Erziehung. Und wenn die Kränklichen ihn brauchen, warum sollte er nicht auch für die Gesunden gut sein? Ich möchte gern, daß jedes Kind, im Winter und im Sommer, an der frischen Luft schläft. Aber ich weiß, daß der ganze Aufsichtsrat in die Luft ginge, wenn ich eine solche Bombe vor ihm fallen ließe.
Bei Aufsichtsräten fällt mir ein: ich habe den Ehrenwerten Cyrus Wykoff getroffen, und ich glaube fast, er ist mir noch unsympathischer als Dr. Robin MacBae oder die Kindergärtnerin oder die Köchin. Ich scheine geradezu ein Talent im Aufspüren von Feinden zu haben!
Mr. Wykoff kam letzten Mittwoch auf Besuch, um den neuen Vorsteher zu besichtigen.
Nachdem er sich in meinem bequemsten Lehnstuhl niedergelassen hatte, blieb er dort für den Rest des Tages. Er erkundigte sich nach dem Geschäft meines Vaters, und wollte wissen, ob mein Vater vermögend sei oder nicht. Ich sagte ihm, daß mein Vater Overalls herstelle, und daß selbst in diesen schweren Zeiten die Nachfrage nach Overalls ziemlich beständig sei. Er schien beruhigt; die Nützlichkeit von Overalls sagt ihm zu. Er hatte befürchtet, daß ich aus der Familie eines Pfarrers, Professors oder Schriftstellers komme,—viele hohe Ideen und kein gesunder Verstand. Cyrus glaubt an gesunden Verstand.
Und was eigentlich meine Vorbildung für diese Stellung sei?
Du weißt, das ist eine etwas peinliche Frage. Aber ich wartete mit meiner College-Ausbildung auf und mit einigen Vorlesungen in der Schule für Wohltätigkeit, außerdem mit einem kurzen Aufenthalt in der College-Siedlung (ich erzählte ihm natürlich nicht, daß ich dort nichts anderes getan habe, als die hintere Halle und Treppe anzustreichen). Dann brachte ich etwas von Sozialarbeit unter den An-
gestellten meines Vaters vor, sowie einige freundschaftliche Besuche im Heim für weibliche Trunksüchtige.
Wozu er nur grunzte.
Ich fügte hinzu, daß ich kürzlich Studien über die Fürsorge für unabhängige Kinder gemacht hätte und erwähnte nebenher meine siebzehn Anstalten.
Er grunzte wieder und sagte, er halte nicht viel von neumodischer wissenschaftlicher Wohltätigkeit.
In diesem Augenblick erschien Jane mit einer Schachtel Rosen aus dem Blumenladen. Gordon Hailock — er sei gelobt — schickt mir zweimal die Woche Rosen, um die Härten des Anstaltslebens zu mildern.
Unser Aufsichtsrat begann eine empörte Untersuchung. Er verlangte zu wissen, woher ich diese Blumen bekäme, und war sichtlich beruhigt, als er hörte, daß ich keine Gelder der Anstalt dafür ausgegeben habe. Er fragte dann, wer wohl Jane sei. Diese Frage hatte ich vorausgesehen und beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Meine Zofe“, sagte ich.
„Ihre was?“ kollerte er, puterrot im Gesicht.
„Meine Zofe“.
„Was tut sie hier?“
Ich erging mich liebenswürdig in Einzelheiten. „Sie stopft meine Kleider, putzt meine Schuhe, hält meine Schubladen in Ordnung, wäscht mir die Haare.“
Ich glaubte tatsächlich, der Mann werde ersticken. Drum fügte ich gütig hinzu, daß ich ihren Lohn aus meinem eigenen Privateinkommen zahle und jede Woche fünf Dollar fünfzig Cents für ihre Kost an die Anstalt entrichte, und daß sie, trotz ihrer Größe, wenig esse.
Er gestand mir zu, daß ich eins der Waisenkinder für alle erlaubten Dienstleistungen verwenden könne. Ich erklärte, immer noch höflich, aber in wachsendem Maß angeödet, daß Jane seit vielen Jahren in meinem Dienst stehe und unentbehrlich sei.
Er verfügte sich schließlich hinweg, nachdem er mir erklärt hatte, daß er für seine Person nie etwas an Mrs. Lippett auszusetzen gehabt habe.
Sie sei eine christliche Frau mit einem gesunden Menschenverstand gewesen, ohne ausgefallene Ideen, aber mit viel solider Arbeitskraft. Er hoffe, daß ich
vernünftig genug sein werde, mein Verhalten nach dem ihren auszurichten!
Meine liebe Judy, was sagst Du dazu?
Einige Minuten später kam der Doktor herein, und ich berichtete das Gespräch des Ehrenwerten Cyrus in allen Einzelheiten. Zum erstenmal in der Geschichte unserer Bekanntschaft stimmten der Doktor und ich überein.
„Ausgerechnet Mrs. Lippett“, knurrte er, „die meckernde alte Zicke! Möge der Herr ihm mehr Verstand
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