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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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Maggie McGurk den armen Mann vernachlässigt. Ich habe ihn der Fürsorge einer Waisen übergeben müssen. Sadie Kate sitzt in diesem Augenblick mit überaus hausfraulicher Miene und gekreuzten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin und näht Knöpfe an seine Jacke, während er oben nach den Kleinen schaut.
    Du wirst es kaum glauben, aber Sandy und ich werden auf eine knurrige schottische Art ganz zutraulich miteinander. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, auf dem Heimweg von seinen Visiten etwa um 4 Uhr nachmittags vor unserem Tor anzufahren, die Runde im Hause zu machen, um sicher zu sein, daß bei uns nicht cholera morbus oder Kindsmord oder irgend etwas Ansteckendes vorkommt, und sich um vier Uhr dreißig an der Tür meiner
    Bibliothek zur Besprechung gemeinsamer Probleme einzufinden.
    Kommt er, um mich zu sehen? O nein, er kommt, um Tee und Toast und Marmelade zu bekommen. Der Mann ist mager und hat einen hungrigen Blick. Seine Haushälterin gibt ihm nicht genug zu essen. Sobald ich etwas mehr Einfluß auf ihn habe, werde ich ihn zum Aufstand aufhetzen.
    Inzwischen ist er sehr dankbar für etwas Eßbares, aber auch höchst komisch in seinem Bemühen um gesellschaftliche Anmut! Zuerst hielt er eine Tasse Tee in einer Hand, einen Teller Krapfen in der anderen Hand und suchte bestürzt nach einer dritten, um sie zu essen. Jetzt hat er das Problem gelöst. Er dreht seine Zehen einwärts und bringt seine Knie zusammen; dann faltet er seine Serviette zu einem langen, schmalen Keil, den er in die Spalte zwischen den Beinen legt, wodurch ein ganz brauchbarer Ersatzschoß entsteht; dann sitzt er mit angespannten Muskeln, bis der Tee getrunken ist. Ich sollte wohl einen Tisch hinstellen, aber der Anblick von Sandy mit seinen einwärts gestellten Zehen ist die einzige Komik, die mir der Tag bietet.
    Der Postbote fährt gerade herein und bringt hoffentlich einen Brief von Dir. Briefe sind eine sehr interessante Unterbrechung in der Eintönigkeit des Anstaltsdasein . Wenn Du die Vorsteherin zufrieden halten willst, schreibst Du am besten oft.
    Post erhalten und Inhalt zur Kenntnis genommen. Übermittle gütigst meinen Dank an Jervis für drei Alligatoren im Sumpf. Er zeigt bei der Auswahl seiner Postkarten einen seltenen künstlerischen Geschmack. Dein sieben Seiten langer illustrierter Brief aus Miami kommt zur selben Zeit. Ich hätte Jervis ohne weiteres, auch ohne Beschriftung, von der Palme unterschieden, weil der Baum so viel mehr Haare hat. Außerdem habe ich einen höflichen Dankbrief von meinem netten jungen Mann in Washington, und ein Buch von ihm, und außerdem eine Schachtel Pralinen. Den Sack Erdnüsse für die Kleinen hat er expreß geschickt. Hast Du je einen solchen Diensteifer erlebt?
    Jimmie vergönnt mir die Nachricht, daß er mich besuchen wird, sobald der Vater ihn in der Fabrik entbehren kann. Der arme Kerl haßt die Fabrik so! Nicht als ob er faul wäre. Er interessiert sich einfach nicht für Overalls. Aber Vater kann einen solchen Mangel an Geschmack nicht verstehen. Da er die Fabrik aufgebaut hat, hat er natürlich eine Leidenschaft für Overalls entwickelt, die sein ältester Sohn hätte erben müssen. Ich finde es kolossal angenehm, als Tochter geboren zu sein. Ich bin nicht verpflichtet, Overalls zu lieben, sondern ich bin frei, jedem morbiden Beruf nachzugehen, den ich wählen mag, wie z. B. dem jetzigen.
    Um zu meiner Post zurückzukehren. Da kam eine Anzeige von einem Nährmittelhändler en gros, der mitteilt, daß er besonders billige Sorten Haferflocken, Reis, Mehl, Zwetschgen und getrocknete Apfel hat, die er eigens für Gefängnisse und Wohlfahrtsinstitutionen packt. Klingt doch nahrhaft?

    Außerdem bekam ich noch Briefe von einigen Farmern, von denen jeder gerne einen starken, kräftigen Buben von vierzehn Jahren hätte, der keine Arbeit scheut; es sei beabsichtigt, ihm ein gutes Heim zu bieten. Diese Art von guten Heimen treten, gerade wenn die Frühjahrsarbeiten anfangen, sehr häufig auf. Als wir letzte Woche eines untersuchten, antwortete der Dorfpfarrer auf die bei uns übliche Frage: „Hat er Besitz?“ sehr vorsichtig: „Ich glaube, er besitzt einen Korkenzieher.“
    Viele Heime, die wir untersucht haben, würdest Du nicht für möglich halten. Kürzlich fanden wir eine sehr wohlhabende ländliche Familie in drei Zimmer zusammengepfercht, damit der Rest ihres schönen Hauses sauber bleibe. Das vierzehnjährige Mädchen, das sie an Stelle eines billigen Dienstboten adoptieren

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