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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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frühzeitig erzwungene, nicht zu umgehende Beschäftigung mit Hausarbeiten.
    Deshalb habe ich die tägliche Arbeit dieser Anstalt in hundert Einzelvorgänge zerteilt, und die Kinder machen Woche für Woche die Runde durch eine Folge ungewohnter Arbeiten. Natürlich machen sie alles schlecht; denn sobald sie etwas können, kommen sie an die nächste Aufgabe. Es wäre unendlich viel leichter für uns, wenn wir Mrs. Lippetts unmoralischer Übung folgten, jedes Kind fürs Leben zu einer gut gekonnten Routine zu verurteilen; aber wenn die Versuchung mich ankommt, rufe ich mir die traurige Gestalt von Florence Henty ins Gedächtnis, die sieben Jahre lang die messingnen Türknöpfe dieser Anstalt polierte — und streng schiebe ich die Kinder weiter.
    Ich werde wütend, so oft ich an Mrs. Lippett denke. Sie hatte genau die Auffassung eines Tammany-Politikers 2 ) — überhaupt keinen Sinn für Dienst an der Gesellschaft; ihr einziges Interesse am John-Grier-Heim war: ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
    Was meinst Du, was für eine neue Wissenschaft ich in meiner Anstalt eingeführt habe? Tischmanieren!
    Ich habe nie geahnt, wieviel Mühe es ist, Kindern beizubringen, wie man ißt und trinkt. Ihre Lieblingsmethode ist, ihre Mäuler bis zu den Schüsselchen zu bringen und ihre Milch wie kleine Kätzchen aufzulecken. Gute Manieren sind nicht nur snobistische Verzierungen, wie das Regime der Mrs. Lippett offenbar glaubte, sie bringen auch Selbstbeherrschung und Rücksicht auf andere Menschen mit sich, und meine Kinder müssen sie lernen.
    Diese Person, die Mrs. Lippett, hat ihnen nicht er laubt, jemals bei den Mahlzeiten zu reden, und ich habe die größte Mühe, etwas anderes an Gesprächen aus ihnen herauszuholen als ein erschrockenes Flüstern. Deshalb habe ich eingeführt, daß der gesamte Stab, mich eingeschlossen, bei Tisch mit ihnen zusammensitzt und das Gespräch in fröhliche und fördernde Bahnen lenkt. Außerdem habe ich einen kleinen, sehr strengen Ausbildungstisch eingerichtet, wo die kleinen Lieblinge schubweise je eine Woche ständigen Nörgelns über sich ergehen lassen. Unsere erhebende Tischkonversation verläuft ungefähr so:
    „Ja, Tom, Napoleon Bonaparte war ein sehr großer Mann — Ellbogen vom Tisch herunter. Er hatte eine ungeheure Fähigkeit, seinen Geist auf das zu konzentrieren, was er haben wollte, und auf diese Weise erreicht man — grapse nicht, Susanne, bitte höflich um das Brot, und Carrie wird es Dir reichen. — Aber er war ein Beispiel für die Tatsache, daß Selbstsüchtige, nur aufs eigene Ich bedachte Gedanken, ohne Rücksicht auf das Leben anderer, zu einem schlimmen Ende — Tom! Mach den Mund zu, solange Du kaust — und nach der Schlacht von Waterloo — laß Sadies Plätzchen gehen — war sein Sturz um so größer, weil — Sadie Kate, verlasse den Tisch. Es macht nichts aus, was er getan hat. Unter keiner Herausforderung ohrfeigt eine Dame einen Herrn!“
    Zwei weitere Tage sind vergangen. Das sind genau so herumstreunende Briefe wie ich sie immer an Judy schreibe. Immerhin, mein Lieber, kannst Du Dich nicht beklagen, daß ich diese Woche nicht an Dich gedacht hätte! Ich weiß, daß Du es nicht ausstehen kannst, nichts als Anstaltsgeschichten zu hören. Aber ich kann nichts dafür. Ich weiß nichts anderes. Ich habe keine fünf Minuten am Tag, um auch nur die Zeitungen zu lesen. Die große Außenwelt ist verschwunden. Meine Interessen liegen alle innerhalb dieser kleinen eisernen Einfriedung.
    Ich bin zur Zeit
    S. McBride ,
    Leiterin des John-Grier-Heims.

    Donnerstag.
    Lieber Feind!
    „Die Zeit ist nur der Strom, in dem ich angeln gehe“, klingt das nicht sehr philosophisch und losgelöst und nach Herr-der-ganzen-Welt? Es stammt aus Thoreau, den ich zur Zeit mit Hingabe lese. Sie sehen, ich habe gegen Ihre Literatur rebelliert und bin zu meiner eigenen zurückgekehrt. Die beiden letzten Abende habe ich „Waiden“ gewidmet, ein Buch, das nicht den entferntesten Zusammenhang mit Waisenkindern hat.
    Haben Sie je den guten alten Henry David Thoreau gelesen? Sie sollten es wirklich tun; ich glaube, Sie würden eine gleichgestimmte Seele finden. Hören Sie: „Die Gesellschaft ist gewöhnlich zu billig. Wir treffen uns in sehr kurzen Abständen, ohne die Zeit gehabt zu haben, einen neuen Wert für einander gewonnen zu haben. Es wäre besser, wenn auf die Quadratmeile nur ein Einwohner käme, wie da, wo ich lebe.“ Ein freundlicher, mitteilsamer, nachbarlicher Mann muß das

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