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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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aristokratische Nachbarschaft der Landgüter wertvolles Material für unsere Anstalt enthalten könne, habe ich mich neuerdings in die gesellschaftlichen Kreise des Dorfs begeben und gestern bei einem Mittagessen eine reizende Witwe ausgegraben, die entzückende, fließende, von ihr selbst entworfene Gewänder trägt. Sie hat mir anvertraut, daß sie am liebsten Schneiderin geworden wäre, wenn sie mit einer Nähnadel statt mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen wäre. Sie sagt, sie kann kein schlechtangezogenes junges Mädchen sehen, ohne das Verlangen zu haben, es in die Hand zu nehmen und anzuziehen. Hast Du je so etwas Passendes gehört? Von dem Augenblick an, in dem sie den Mund öffnete, war sie ein gekennzeichneter Mensch.
    „Ich kann Ihnen neunundfünfzig schlecht angezogene Mädchen zeigen“, sagte ich zu ihr, „und Sie müssen mit mir kommen und ihre neuen Kleider entwerfen und sie schön machen.“
    Sie protestierte,--jedoch umsonst. Ich führte sie zu ihrem Auto, schob sie hinein und murmelte dem Chauffeur zu: „John-Grier-Heim“. Die erste Insassin, der wir begegneten, war Sadie Kate, wie ich annehme frisch von einer Umarmung mit dem Syrupfaß und ein abstoßender Anblick für jeden ästhetisch denkenden Menschen. Abgesehen davon, daß sie klebte, hing ein Strumpf herunter, die
    Schürze war verkehrt zugeknöpft, und sie hatte ihre Haarschleife verloren. Aber wie immer war sie ganz selbstsicher, begrüßte uns mit einem vergnügten Lachen und offerierte der Dame eine klebrige Pfote.
    „Jetzt“, sagte ich triumphierend, „sehen Sie, wie sehr wir Sie brauchen. Was können Sie tun, um Sadie Kate schön zu machen?“
    „Sie waschen“, sagte Mrs. Livermore.
    Sadie Kate wurde in mein Badezimmer geführt. Als die Schrubberei beendet, das Haar zurückgekämmt, der Strumpf hochgezogen war, brachte ich sie zu einer zweiten Besichtigung zurück—ein ganz gewöhnliches kleines Waisenkind. Mrs. Livermore drehte sie links herum und rechts herum und studierte sie ernsthaft.
    Sadie Kate ist von Natur eine Schönheit, ein wildes, dunkles, zigeunerhaftes Fohlen; sie sieht aus, als komme sie geradeswegs von den windgefegten Mooren von Connemara. Aber, ach, wir haben es fertiggebracht, sie mit dieser gräßlichen Anstaltsuniform ihres Geburtsrechts zu berauben!
    Nach fünf Minuten schweigender Betrachtung schaute Mrs. Livermore mich an.
    „Ja, meine Liebe, Sie brauchen mich.“
    Und dann haben wir unsere Pläne gemacht. Sie wird dem Ausschuß über Kleider Vorsitzen. Sie soll drei Freundinnen aussuchen, die ihr helfen, und diese mit den zwei Dutzend besten Näherinnen unter unseren Mädchen und unserer Handarbeitslehrerin und fünf Nähmaschinen werden das Aussehen unserer Anstalt verändern. Dabei ist die Wohltätigkeit ganz auf unserer Seite. Wir geben Mrs. Livermore den Beruf, um den die Vorsehung sie gebracht hat. War ich nicht tüchtig, daß ich sie gefunden habe?
    Ich hin heute zur Dämmerstunde aufgewacht und habe gekräht!
    Es gibt noch viel mehr Neuigkeiten. Ich könnte einen zweiten Band füllen. Aber ich will diesen Brief mit Mr. Witherspoon in die Stadt schicken. In einem sehr hohen Kragen und dem schwärzesten aller Abendanzüge ist er im Begriff, zu einem Scheunenball des Landhausklubs aufzubrechen. Ich habe ihm gesagt, er solle die nettesten Mädchen, mit denen er tanzt, aussuchen, damit sie unseren Kindern Märchen erzählen.
    Es ist geradezu fürchterlich, was für eine berechnende Person ich werde. So oft ich mich mit jemand unterhalte, denke ich im stillen : „Wie kann ich Dich für meine Anstalt verwenden?“ Es besteht ernstlich die Gefahr, daß die gegenwärtige Leiterin sich für ihre Aufgabe so interessiert, daß sie nie mehr bereit sein wird, zu gehen. Manchmal stelle ich sie mir

    als weißhaarige alte Dame vor, die in einem Rollstuhl durch das Gebäude gefahren wird, aber immer noch zäh ihre vierte Generation von Waisen beaufsichtigt.
    Bitte, entlaßt mich, bevor es dazu kommt!
    Eure Sallie.

    Freitag.
    Liebe Judy!
    Gestern morgen fuhr ohne die geringste Vorankündigung eine Droschke vor unser Tor, leerte zwei Männer, zwei Buben, ein Baby, ein Schaukelpferd und einen Teddybär auf unsere Treppen aus und fuhr wieder ab.
    Die Männer waren Künstler, und die Kleinen waren die Kinder eines anderen Künstlers, der vor drei Wochen gestorben ist. Sie hatten die Persönchen zu uns gebracht, weil sie meinten, daß „John-Grier“ respektabel und solid klingt, und nicht

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