Lieber Feind
offiziell der „Waisenanstalt der hebräischen beschützenden Vormundschaftsgesellschaft in Pleasantville“ (was für ein Name!) einen Besuch abstatten. Von hier aus ist es eine höchst umständliche Fahrt mit Aufbruch in der Dämmerung, zwei Bahnfahrten und einem Stück im Auto; aber wenn ich eine Autorität sein will, muß ich doch dem Titel Ehre machen. Ich bin darauf aus, andere Anstalten anzusehen, und so viele Ideen wie möglich für unsere eigenen Veränderungen im nächsten Jahr aufzugabeln.
Ich gebe nun nach reiflicher Überlegung zu, daß es für uns richtig war, ausgedehnte Bauarbeiten bis zum nächsten Sommer zu verschieben. Natürlich war ich enttäuscht, weil es bedeutet, daß ich nicht im Mittelpunkt des Einreißens stehen werde, und das wäre doch was für mich! Aber wenn ich auch offiziell nicht mehr Vorsteherin bin, so werdet Ihr doch meinen Rat annehmen? Die zwei kleineren Bauvorhaben, die wir trotzdem schon fertiggebracht haben, sind sehr vielversprechend. Unsere neue Wäscherei wird immer besser; wir sind nun auch den dampfigen Geruch los, der Anstalten so sehr anhängt. Das Haus des Farmers wird nächste Woche endgültig bezugsfertig sein.
Es muß nur noch gestrichen werden und Türknöpfe bekommen.
Aber, o Jammer! Eine weitere Seifenblase ist zerplatzt! Trotz ihrem gemütlichen Umfang und dem sonnigen Lächeln kann Mrs. Turnfelt nicht vertragen, daß Kinder herumschmutzen. Sie machen sie nervös. Und Turnfelt selbst, — er ist ja gewiß fleißig und methodisch, und ein ausgezeichneter Gärtner; aber seine geistige Beweglichkeit entspricht nicht ganz dem, was ich erhofft hatte. Als er ankam, erlaubte ich ihm die Benutzung der Bibliothek. Er hat an dem Büchergestell neben der Türe angefangen, das siebenunddreißig Bände der Werke von Pansy 6 ) enthält. Nachdem er vier Monate an Pansy gewendet hatte, habe ich eine Abwechslung vorgeschlagen und ihn mit Huckleberry Finn nach Hause geschickt. Aber nach wenigen Tagen hat er es kopfschüttelnd wiedergebracht. Er sagt, nachdem er Pansy gelesen hat, kommt ihm alles andere zahm vor. Ich fürchte, ich muß mich nach jemand umsehen, der etwas beweglicher ist. Doch verglichen mit Sterry ist Turnfelt geradezu ein Gelehrter!
Und da ich schon Sterry erwähne: er hat uns vor ein paar Tagen in kleinlauter Stimmung einen Besuch abgestattet. Offenbar braucht der „reiche Stadt-Kerl“, dessen Anwesen er bewirtschaftete, seine Dienste nicht mehr; und Sterry hat gnädigst eingewilligt, zu uns zurückzukehren und den Kindern die Gärten zu lassen, wenn sie sie haben wollen. Ich habe das Angebot freundlich, aber überzeugend abgelehnt.
Freitag.
Ich bin gestern abend mit einem Herz voller Neid aus Pleasantville zurückgekehrt. Bitte, Herr Präsident, ich möchte ein paar graue Stukkatur-Villen, mit Figuren von Luca della Robbia in der vorderen Mauer. Fast 700 Kinder sind dort, — alle schon ganz groß. Das ist natürlich ein ganz anderes Problem als meine hundertundsieben, unter denen es alle Altersstufen vom Jüngsten an aufwärts gibt. Aber ich habe mir von ihrem Leiter einige ganz besondere Ideen ausgeborgt. Ich teile meine Kücken in große und kleine Schwestern und Brüder ein, jedes bekommt ein kleines, für das es sorgt und kämpft und das es lieb hat. Große Schwester Sadie Kate muß immer danach sehen, daß kleine Schwester Gladiola glatt gekämmt ist, daß ihr die Strümpfe nicht herunterhängen, daß sie ihre Aufgaben gemacht hat und ihren Anteil Liebe und Bonbons erhält, — sehr angenehm für Gladiola, aber besonders förderlich für Sadie Kate.
So werde ich denn unter unseren größeren Kindern eine beschränkte Art von Selbstverwaltung einführen, wie wir sie im College hatten. Das wird ihnen helfen, ins Leben zu treten und sich daselbst zu regieren. Dieses Abschieben der Kinder in die Welt, wenn sie sechzehn Jahre alt sind, kommt mir erbarmungslos vor. Fünf meiner Kinder sind so weit, aber ich bringe es einfach nicht über mich. Ich denke dabei an mein eigenes verantwortungsloses, dummes, junges Ich, und überlege, was aus mir geworden wäre, wenn man mich mit sechzehn Jahren zum Arbeiten geschickt hätte.
Ich muß Dich jetzt verlassen, um einen Brief an meinen Politiker in Washington zu schreiben, und
das ist eine schwere Arbeit. Was habe ich zu sagen, was einen Politiker interessieren könnte? Ich bin zu nichts anderem mehr fähig, als über Babys zu plappern, und ihm wäre es ganz einerlei, wenn alle Babys vom Erdenrund weggefegt
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