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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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war dort zum Teekochen da. Die Themse war kalt und sah aus wie gebrauchtes Spülwasser. Ich weiß noch, wie ich dann nach oben sah, zu dem blassbraunen, so weit entfernten Licht über dem Wasser, und wie ich mich fragte, ob ich jetzt noch tiefer sinken oder langsam wieder auftauchen würde. Auf jeden Fall blieb ich eine Ewigkeit unten, Osama. Ich hätte nichts dagegen gehabt zu ertrinken, aber am Ende tauchte ich tatsächlich wieder auf Irgendwie scheine ich ja immer wieder hochzukommen.
    Und als ich auftauchte, fand ich mich direkt neben einem Brückenpfeiler, an dem ich mich festhalten konnte, während immer mehr Leute ins Wasser stürzten. Wer schwimmen konnte, rettete sich ans Ufer, die anderen hatten entweder Glück wie ich und fanden was zum Anklammern, oder sie ruderten eine Weile wild mit den Armen und gingen dann unter.
    Keine Ahnung, wie lange ich an dem Pfeiler hing. Die Fugen zwischen den Steinen waren etwa einen Zentimeter breit, gerade breit genug, dass Finger und Zehen Halt fanden und ich meinen Kopf über Wasser halten konnte, während die Strömung an mir zerrte. Das Wasser war so kalt, dass mir fast der Kopf zersprang, und auch meine Arme und Beine waren bald ganz taub. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, mich trotzdem festzuhalten, aber ich habe es geschafft, und ich war beileibe nicht die Einzige, die sich da festhielt. Gleich neben mir hing ein rothaariges Mädchen. Sie trug ein Nadelstreifen-Kostüm und ein weißes Hemd mit breitem Kragen, aber keinen BH, und durch das nasse Hemd konnte man ihre Titten sehen. Auf der linken hatte sie ein Tattoo, eins von diesen chinesischen Schriftzeichen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wie seltsam, Mädel, ich sehe hier dein Tattoo, und all deine Arbeitskollegen, die dich seit Jahren kennen, haben wahrscheinlich keine Ahnung davon. Schon komisch, woran man denkt, wenn man eigentlich ans Sterben denken sollte.
    -Ich kann mich nicht länger halten, sagte das rothaarige Mädchen.
    - Du musst.
    - Ich kann aber nicht.
    - Doch, kannst du wohl.
    Sie sah mich an, zugleich erbittert und zu Tode erschöpft.
    - Ach, was weißt denn du schon?, sagte sie.
    Dann ließ sie los, und ich sah sie untergehen. Ihr hellrotes Haar versank als Letztes, wie eine Clownsperücke. Ich war mittlerweile so steif gefroren, dass ich meine Finger nicht mehr fühlte – oder nur wie kleine, abgestorbene Zweige. Außerdem war der Stein voll von diesem grünen Schleim, dauernd rutschte man weg und musste sich dann wieder tiefer in die Fuge krallen. Als ich darüber nachdachte, dass ich jetzt sterben könnte, wurde ich total wütend. Immer wieder sah ich meinen schreienden Jungen vor mir, mit Mr. Rabbit in der Tasche und seinem brennenden Arsenal-Shirt.
    Ich war so wütend, Osama, dass ich die ganze Zeit brüllte: SIE WUSSTEN ES, SIE WUSSTEN ES, und die anderen Leute guckten ganz schön blöd. Meine Rufe hallten unter dem Brückenbogen wider. In dem Moment tauchte ein Polizeiboot auf. Ich denke, irgendjemand wird mich schreien gehört haben. Es war aber nur ein kleines Boot mit einem einzigen Polizisten drin. Dem war wohl erst nicht klar, wie viele von uns unter der Brücke hingen. Ich sah nur sein bass erstauntes Gesicht, als sein Boot um den Pfeiler fuhr und er uns plötzlich erblickte. Er riss den Mund auf und wollte das Ruder herumwerfen, aber es war schon zu spät. Die Strömung hatte ihn zu nahe an den Pfeiler getrieben, und gleich griffen die ersten Leute nach der Bordwand und zogen sich ins Boot. Ich glaube, alles in allem hatten sich 20 Leute an den Pfeilern festgekrallt, und alle 20 hingen auf einmal an diesem Boot. Der einzige Grund, warum ich nicht darunter war: Meine Finger weigerten sich, die Brücke loszulassen. Das Polizeiboot neigte sich gefährlich unter dem Übergewicht, und es lag schon ziemlich tief im Wasser. Der Polizist rief zwar: Bitte, nicht noch mehr. Und hatte sogar eine lange Stange mit einem Haken, mit dem er die Leute ins Wasser zurückstieß, die auch noch reinwollten. Aber das funktionierte nicht, immer mehr kletterten ins Boot, so viele, dass schließlich das Wasser über die Bordwand kam, ganz still und braun und tödlich.
    Als das Boot kenterte, wurden fast alle darunter eingeschlossen. Ich sah nicht viele wieder auftauchen, vielleicht 2 oder 3, und auch die gingen bald wieder unter. Das war’s also. Ich war ganz allein übrig, und wenige Meter weiter schwamm das umgekippte Polizeiboot. Die Unterseite war orange und glitschig, und es ragte kaum mehr

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