Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
jene, die sie erhalten möchten. Und dass all dies in meiner Familie nicht zum ersten Mal passiert.
Jetzt sah ich, dass ich mir nicht einmal die Zeit genommen hatte, die Kartons aus der Wohnung meiner Mutter auszupacken, ich hatte sie in einem Schrank gestapelt. Sie waren voller Briefe und alter Akten, die ich zusammengerafft hatte,ohne auch nur auf die Idee zu kommen, sie mir näher anzuschauen.
Fast wider Willen begann ich nun, mich in das Familienarchiv zu vertiefen, auf der Suche nach meinen Wurzeln und denen der Familie meiner Mutter.[ 6 ] Ich wollte verstehen, wer ihr Vater, mein Großvater, war, der als leidenschaftlicher Verfechter der neuen Malerei so große Anerkennung gefunden hatte, doch während des Zweiten Weltkriegs zum Paria wurde. Und so entstand der Wunsch, die einzelnen Teile dieser von Kunst und Krieg geprägten Familiengeschichte wieder zusammenzufügen. Mich auf die Suche nach diesem Großvater zu machen.
Ich bin die Enkelin eines Herrn, der Paul Rosenberg hieß und in Paris wohnte, in der Rue La Boétie 21.
1 Michael Marrus, Robert Paxton,
Vichy France and the Jews,
wiederaufgelegt Stanford 1995. Die frz. Übersetzung
(Vichy et les juifs)
erschien zuerst 1981 in Paris.
2 dt.:
Der schwarze Donnerstag: Kollaboration und Endlösung in Frankreich,
Freiburg und Olten 1968
3 dt.: Pierre Péan,
Eine französische Jugend,
München 1995
4 Dem Titel des Buchs von Eric Conan und Henry Rousso entlehnt,
Vichy, un passé qui ne passe pas
(Vichy, eine Vergangenheit, die nicht vergeht), Paris 1994.
5 Im Zweiten Weltkrieg heimlich gegründet und heute integraler Bestandteil des Mémorial de la Shoah in Paris. (A.d.Ü.)
6 Unter den vergilbten Papieren entdeckte ich auch meine Original-Geburtsurkunde, nicht den von den Ämtern verlangten Auszug. Was hätte der Schalterbeamte der Präfektur – der immerhin den Anstoß zu diesem Buch gegeben hat – erst gesagt, wenn er gesehen hätte, dass ich als »Anne Schwartz, genannt Sinclair« geboren bin und dieser Personenstand erst 1949, als ich ein Jahr alt war, mit Beschluss des Staatsrats geändert wurde?
RUE LA BOÉTIE
N UMMER 21 . Hundertmal bin ich daran vorbeigegangen. Meine Mutter zeigte mir gern die Fassade aus den Dreißigerjahren mit ihren Blendarkaden aus behauenem Stein. Ich hatte dort Boutiquen und eine Pizzeria bemerkt, war aber nie stehen geblieben.
Was soll ich an diesem Apriltag des Jahres 2010, da mich die aus den Kartons aufgetauchten Dokumente verfolgen, anderes tun? Aber siebzig Jahre nachdem die Bewohner, um die es mir geht, diesen Ort verlassen haben, will ich sehen, ohne freilich zu wissen, was genau.
Heute befindet sich dort eine Niederlassung der Firma Veolia. Ich rufe an: »Meine Großeltern haben in dem Haus gelebt, ich würde gerne einen Blick hineinwerfen, oh, nur einen Blick, ich will nicht stören, sicher hat sich alles sehr verändert, das war vor dem Krieg, wahrscheinlich ist gar nichts mehr übrig, und wenn es nicht geht, ist es auch nicht schlimm!« Als hätte ich Angst, dass man mir diesen Besuch gestattet …
Man hat ihn mir nicht verwehrt. Warum auch? An diesem Mittwoch im April 2010 also gehe ich zu Veolia in der Rue La Boétie 21 und erzähle meine Geschichte. Verständnisvoll und gerührt (aber doch etwas erstaunt, dass ich erst mit über sechzig plötzlich Lust auf diesen Besuch hatte) führen mich meine Gastgeber höflich durch die Räume.
Die Eingangshalle ist unterteilt worden, es bleiben Säulen mit korinthischen Kapitellen aus weißem Stuck, die ich ziemlich geschmacklos finde – stammen sie von damals? –, und der Marmorfußboden in schwarz-weißem Schachbrettmuster. Aber es ist unmöglich festzustellen, an welcher Stelle der Eingangshalle sich die von Braque entworfenen Marmorplatten (er überwachte auch die Ausführung) befanden, die früher in den Fußboden eingelassen waren und nach dem Krieg herausgenommen und in niedrige Tische umgearbeitet wurden.
Alles ist umgebaut und modernisiert, die Räume, ja selbst ihre Größe haben sich verändert. An den Decken Spots aus dem neuen Jahrtausend. Unversehrt ist die Treppe in die oberen Stockwerke, die einstigen Wohnräume. Das altmodische Geländer der Pariser Treppenhäuser vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist noch da, aber statt des einstigen offenen Aufzugsgehäuses wurde ein Lift nach heutiger Norm eingebaut. Dagegen scheint die Treppe innerhalb der Galerie mit ihrem schmiedeeisernen Geländer noch aus den Dreißigerjahren zu
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