Liebeskind
herumkritzelte. Das neue Malbuch, das die Großmutter für sie gekauft hatte, lag verloren an der Tischkante. Sorgfältig schob Vera es weiter zurück, damit es nicht herunterfallen konnte, und schaute sich dabei den auf dem Einband abgebildeten Bauernhof an. Er war genau so, wie Vera sich einen vorgestellt hatte als Kind. Gerade Formen, helle freundliche Farben, ein Hund vor der Tür, ein paar Geranien im Fenster; übersichtlich; heil. Sie beobachtete Elsa, die selbstvergessen in ihrem eigenen Rhythmus, mal rechts, mal links auf den Rändern ihrer Zunge herumkaute, während die kleine Hand in schnellen Strichen über das Papier flog. Die Angewohnheit, in dieser Art und Weise ihren Mund zu bewegen, hatte sie sich von Friedrich abgeguckt oder er hatte sie ihr vererbt. Kaum vorstellbar, wie sich ein kleines Mädchen von selbst etwas Derartiges ausgedacht haben sollte. Ganz abgesehen davon, dass es ihr Gesicht entstellte, erhielt es dadurch auch einen dumpfen Ausdruck, wie ihn Vera auch aus dem Fernsehen kannte. Ihre Tochter, ein Fall für die „Aktion Sorgenkind“. So hieß die Lotterie, bei der man durch den Kauf von Losen behinderte Kinder unterstützte. Mit viel Glück konnte man auch selbst etwas gewinnen. Von Zeit zu Zeit wurde eine „Aktion-Sorgenkind“-Show am Samstagabend auch in die Wohnzimmer übertragen. Da konnte man dann miterleben, wofür das ganze Geld verwendet wurde. Vera sah das sehr gern, besonders die Ziehung der Hauptpreise. Und es waren immer ganz süße Kinder eingeladen, denen man ihr schweres Schicksal zumeist nicht ansehen konnte.
Vera wandte sich ab und machte sich an den Abwasch, der seit gestern Abend die Arbeitsplatte blockierte. Jeden Tag dasselbe. Eigentlich hätte sie längst anfangen müssen mit der Kocherei, schließlich würde Friedrich in ein paar Minuten zu Hause sein. Und während das heiße Wasser in das Waschbecken lief, starrte Vera ein letztes Mal zu Elsa hinüber, die gerade dabei war, die gemalten Bilder aus ihrer Zeitung herauszureißen und zu kleinen Bällen zusammenzuknüllen. Noch immer bewegte sich ihre Zunge dabei in diesem seltsamen Rhythmus. Ekelhaft, dachte Vera, als sie ihre Hände in das Wasser tauchte und dann vor Schmerz aufschrie. Sie hatte, in Gedanken wieder einmal nur mit ihrem Kind beschäftigt, vergessen, auch das Kaltwasser mit aufzudrehen.
Es war exakt neun Uhr, als Rainer Herold seinen Treffpunkt mit Angela erreichte. Er bezahlte das Taxi und sah sich um, hier, am Zentralen Omnibusbahnhof, hatte sich viel verändert. Er erinnerte sich an die einfachen Haltestellen mit ihren kleinen Dächern und den Plexiglaswänden, die früher gerade einmal einer Hand voll Leuten genug Platz geboten hatten, um sich vor Regen und Kälte zu schützen. Auf den Gehsteigen vor dem alten ZOB hatte jede Menge Müll herumgelegen, weit und breit war nicht einmal eine Imbissbude in Sicht gewesen. Wie sehr unterschieden sich diealten Bilder von damals doch von dem Anblick, der sich ihm heute bot. Er stand auf einer riesenhaften Verkehrsinsel, um die herum an die zwanzig Haltestellen angelegt worden waren, jede mit einer eigenen Spur ausgestattet. Gekrönt wurde das Ganze von einem ellipsenförmigen Dach, das dem Architekten wohl die Möglichkeit geboten hatte, sich künstlerisch auszuleben. Es war nichts mehr als ein designtes Anhängsel, ein Schmuckelement ohne praktischen Wert, denn um wirklichen Schutz zu bieten, war es viel zu weit nach oben gebaut worden. Auf den Gehsteigen musste man seinen Hut festhalten. Der Wind pfiff um die Ecken und zerzauste jedem, der hier wartete, das Haar. In der Mitte der Insel gab es einen Warteraum, zwei Fastfood-restaurants, ein hochmodernes Informationsterminal sowie mehrere Fahrkartenschalter. Und es war auffällig sauber. Die beiden Männer in ihren schmucken Uniformen, die ihm gerade entgegenkamen, schienen tatsächlich zu verhindern, dass sich hier wie früher Obdachlose oder anderes Pack zusammenrottete und die Gehsteige blockierte. Neugierig schlenderte Rainer an den Haltebuchten entlang und studierte die Reiseziele. Berlin, Amsterdam, Danzig, Kaliningrad, irgendwelche weiteren Städte in Polen, die er nicht kannte, und dann tatsächlich Moskau. Der Bus nach Moskau sollte kurz vor Mitternacht losfahren, also würde hier bis spät in der Nacht geschäftiges Treiben herrschen. Vermummte Gestalten zogen an ihm vorbei, viele schleppten großes Gepäck. Die meisten waren junge Männer. Alles war so ganz anders als in seiner Erinnerung,
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