Liebeskind
Morgen Ende November erwachte und aus dem Bett stieg, fror sieerbärmlich. Schnell zog sie sich ihren Bademantel über, dann ging sie in die Küche hinunter, um Kaffee zu kochen. Das Wasser kam kalt aus dem Hahn. Seltsam, dachte sie, während sie den Mantel fester um ihren Körper zog. Sie griff an die Heizung und stellte fest, dass sie ebenfalls kalt war. Wahrscheinlich hatte Tom wieder einmal an der Nachtabsenkung herumgespielt. Er hatte den Ehrgeiz entwickelt, den Energieverbrauch in ihrem Haus so niedrig wie möglich zu halten. Das war im Prinzip auch in Ordnung, doch sie hasste es, am frühen Morgen frieren zu müssen. Mit zwei Bechern Kaffee in der Hand ging sie ins Schlafzimmer zurück und reichte einen davon ihrem Mann Tom, der sie nun aus verschlafenen Augen anschaute.
„Es ist eiskalt im Haus.“
Tom setzte sich auf. „Ich werde gleich nachsehen, was los ist.“
Anna ging derweil ins Badezimmer, wo sie auf ihren älteren Sohn Ben traf, der sie anstatt eines Grußes nur mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte und vor ihr auf und ab hüpfte. Dann fing er an, wild mit den Armen um sich zu schlagen. Schon zeigten sich rote Flecken auf seinem nackten Oberkörper.
„Hat Papa mal wieder die Heizung abgedreht?“
Ben wie auch Paul, dem jüngeren der beiden Brüder, gingen die Energiesparmaßnahmen ihres Vaters ebenfalls auf die Nerven. Zwar fand es Anna grundsätzlich gut, dass Tom den Kindern beizubringen versuchte, nicht verschwenderisch mit Dingen und Ressourcen umzugehen, aber manchmal schoss er dabei eben über das Ziel hinaus. „Ich weiß auch nicht, was los ist. Dein Vater sieht gerade unten nach.“
„Schreibst du mir eine Entschuldigung für die erste Stunde?“ Bens missmutiger Blick hatte einem listigen Lächeln Platz gemacht. „In dieser Kälte kriegt man ja einen zu viel, ich werde bestimmt zu spät kommen.“
Anna sah ihren vierzehnjährigen Sohn mahnend an.
„Sieh zu, dass du in die Klamotten kommst, du bist heute dran mit Brötchenholen.“
Nun kam Tom leise vor sich hin schimpfend zu ihnen ins Badezimmer, nahm seinen Morgenmantel vom Kleiderhaken und zog ihn sich über.
„So ein Mist“, knurrte er. „Ich glaube, die Heizung ist kaputt, und das bei dieser lausigen Kälte. Ich werde gleich mal Herrn Baumann anrufen, der soll sich die Bescherung heute noch ansehen.“
Na wunderbar, dachte Anna und hoffte inständig, dass es sich nur um eine kleinere Reparatur handeln würde. Ansonsten wären ihre Pläne für einen gemeinsamen Skiurlaub über Weihnachten damit geplatzt, denn eine neue Heizung und einen Urlaub würden sie sich gleichzeitig nicht leisten können.
An diesem Morgen hatte Anna es sehr eilig, zu ihrer Arbeitsstelle beim Landeskriminalamt im Hamburger Stadtteil Alsterdorf zu kommen. Sie wollte so schnell wie möglich ins Warme und hatte tatsächlich Glück. An diesem Tag schaffte sie den weiten Weg von ihrem Zuhause am Rande der Lüneburger Heide bis ins Büro, ohne im Elbtunnel im Stau stecken zu bleiben, wie es meistens der Fall war.
Lukas Weber beobachtete seine Kollegin Anna Greve sorgenvoll. Sie zitterte, dabei war es angenehm warm in ihrem gemeinsamen Büro.
„Morgen, Anna, Sie werden doch wohl nicht krank werden?“
„Es sieht so aus, als hätte unsere Heizung den Geist aufgegeben.“
„Umso wichtiger, dass unsere Gehälter endlich aufgebessert werden.“
Anna Greve sah von ihrem Schreibtisch auf.
„Glauben Sie das wirklich, Weber? Es ist doch jedes Mal vor den Wahlen das Gleiche. Erinnern Sie sich nicht mehr, was der Poll uns alles versprochen hat, als er damals Innensenator wurde?“
„Klar, aber jetzt weht schließlich ein anderer Wind in der Stadt.“
„Tatsächlich? Ich für mich kann jedenfalls keinen großen Unterschied ausmachen. Außerdem ist Hamburg nach wie vor so gut wie pleite.“
Anna nahm die oberste Akte vom Stapel ihres Schreibtischs und schlug sie auf. Dann machte sie sich an die Arbeit.
Rainer Herold sah auf die Uhr über der Küchentür, es war erst halb acht. Ihm blieben noch beinahe zwei Stunden Zeit bis zu seinem Treffen mit Angela. Eben noch hatte er mit seinen Eltern zu Abend gegessen. Endlich gab es Mutters berühmten Sauerbraten, und Rainer hatte gleich zwei Portionen davon in sich hineingeschaufelt. Wäre er wegen der bevorstehenden Verabredung nicht so aufgeregt gewesen, hätte er sich nur allzu gern noch eine Weile ausgeruht. Seine Eltern hatten Angela anscheinend noch nie gesehen. Würde sie hier im Landkreis leben,
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