Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen des Schicksals

Im Zeichen des Schicksals

Titel: Im Zeichen des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mina Hepsen
Vom Netzwerk:
Prolog
    »Bitte, töte mich! Ich flehe dich an. Töte mich einfach!«
    Seine Gnadenfrist war vorüber. Binnen Sekunden schleuderte eine gewaltige Kraft ihn durch den Raum; mit rudernden Armen riss er Stühle und Lampen mit sich. Ein heißer Schmerz fuhr ihm durch den Rücken, als er nach einem dumpfen Aufprall auf dem Seidenteppich des Hotelzimmers liegen blieb. Vier tiefe Schnittwunden zogen sich quer über seine Brust, und sein zerrissenes Hemd färbte sich blutrot. Er unternahm keinen Versuch aufzustehen, und hinter seinen fest geschlossenen Augen sammelten sich Tränen.
    »Sieh mich an!« Heißer Atem kitzelte sein Ohr, als das Zischen erneut ertönte: »Sieh mich an!«
    Er konnte nicht hinsehen! Er wollte um Gnade flehen, aber die Angst lähmte ihn. Dann blieb ihm die Luft weg. Er griff über sich ins Leere, während sich Hände schwer auf seinen Schädel legten und Fingernägel sich in seine Kopfhaut gruben. Er versuchte zu schreien, doch er bekam keine Luft! Und dann hörte er es. Das entsetzliche Saugen, vor dem ihm gegraut hatte. Es zog ihm das Leben aus dem Leib.
    »Sag mir, wo er ist!«
    »Niemals!« Er schluchzte und weinte wie ein Säugling. Der Rotz lief ihm aus der Nase und vermischte sich mit seinen Tränen und dem Blut. »Du wirst ihn niemals finden, Dschinn. Niemals!«
    Ein hohles Gelächter erfüllte den Raum, sodass ihm die Haare zu Berge standen.
    »Ich werde ihn finden und dann töten«, zischte der Dschinn. »So mühelos, wie ich jetzt dich töten werde.«
    Erneut erfüllte das Saugen den Raum, und einige Sekunden später fiel ein lebloser Körper zu Boden, dessen vertrocknete Augen tief in die Höhlen gesunken waren. Der Dschinn trat über den Toten hinweg an den immer noch qualmenden offenen Kamin, in dem ein Bündel verkohlter Briefe lag. Jedes Stückchen Papier war verbrannt, bis auf einen kleinen Fetzen, der dem hastig entzündeten Feuer entronnen und auf den Boden gefallen war. Mit einem zufriedenen Zischen hob der Dschinn das Papier auf und prägte sich die Worte darauf ein, bevor er den Zettel wieder zu Boden flattern ließ.
    Er wusste jetzt, wo er ihn finden würde: East Wendell.

Der Narr
    Manchmal habe ich das Gefühl, in einem Comic-Heft zu leben. Ich wache in einem dunklen Loch auf, schlüpfe in die Kleider einer anderen und lüge jeden an, damit niemand entdeckt, wer ich wirklich bin. Clark Kent und Peter Parker sind auch nicht gerade Musterbeispiele für Ehrlichkeit, aber sie gehören trotzdem zu den Guten. Ich mag die Vorstellung, dass ich ebenfalls eine von den Guten bin, aber wahrscheinlich mache ich mir nur selbst etwas vor. Schließlich sind es nur ihre Superheldentaten, die Superman und Spidey die Entschuldigungen für ihre ständigen Lügen liefern. Ich dagegen habe nichts auch nur ansatzweise Superheldenhaftes an mir. Ich bin nicht besonders stark, habe keinerlei Erfahrung im Kampfsport, und selbst wenn ich den Zauberstab von Harry Potter besäße, könnte ich die Ratten nicht wegzaubern, die sich in den Wänden meiner Wohnung tummeln.
    Okay, vielleicht habe ich tatsächlich eine minimale Begabung. Aber sie ist ganz klein. Wirklich winzig. Und ich kann sie nicht einmal kontrollieren, daher zählt sie kaum. Nein, backen und lügen – das sind die beiden einzigen Sachen, die ich tatsächlich beherrsche. Die beiden Dinge, die ich mein Leben lang getan habe.
    Doch das Lügen kam als Erstes.
    Die erste Lüge war Sarah .
    Ich wurde vor elf Jahren vor einem Waisenhaus in Somerville, Massachusetts, abgesetzt. »Abgesetzt« ist wohl nicht ganz das richtige Wort. Jemand hat mich mitten in der Nacht zum Tor des roten Backsteinbaus gebracht, hat geklingelt und mich dann dort stehen lassen.
    Nein, man hat mich vor elf Jahren vorm Waisenhaus von Somerville ausgesetzt. Ich habe eine vage Erinnerung an Sturm und Gewitter, an über den Himmel zuckende Blitze und an eine Gestalt in einem dunklen Umhang, die mir sagte, ich solle mich an den Eisenstäben des Gitters festhalten. Ich war fünf Jahre alt. Eigentlich sollten meine Erinnerungen in die Zeit vor diesem Augenblick zurückreichen … Erinnerungen an meine Eltern, ein Haus, vielleicht sogar ein Haustier. Aber da ist alles schwarz und leer.
    Meine früheste Erinnerung gilt den Worten dieser Frauengestalt im Umhang unter einem stürmischen Himmel: »Halt dich an den Gitterstäben fest. Halt dich fest.«
    Also gab es auch nicht viel, was ich den Angestellten des Waisenhauses erzählen konnte, als sie mich in jener Nacht am Tor fanden.

Weitere Kostenlose Bücher