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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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setze mich dann auf einen der Sessel neben der Tür, das Wissen um seine Nähe erschüttert mich, macht mir das Atmen schwer, dort ist er, am Ende des Flurs, in Reichweite, bisher haben wir uns immer nur durch Zufall getroffen, aber die Zufälle passten so genau, als wären sie sorgfältig geplant, während all meine Versuche und all meine Anstrengungen, sie wieder herbeizuführen, nichts gebracht haben.
    An dem Treppenhaus des alten Gebäudes, das nun zu einem Bürohaus geworden und nachts bestimmt leer und bedrohlich ist, dringt das Geräusch eines Zahnarztbohrers, und ich beiße mir auf die Lippen und betrachte feindselig die Sekretärin, die sich wie eine Königin in ihrem Palast benimmt, gleich wird sie, den Hintern schwenkend, zu ihm gehen, den Zettel mit meinem Namen in der Hand, Ella Miller, wird sie zu ihm sagen, sie braucht ein neues Rezept, wird er meinen Namen überhaupt erkennen, wird er meine verborgene Absicht erraten und zu mir kommen, oder wird er sie anweisen, mich in sein Zimmer zu führen, und ich werde stolz und erregt an ihr vorbeigehen, ich werde mich auf den Ledersessel ihm gegenüber setzen, vor die violetten Chiffongardinen, ich habe seither nur noch an dich gedacht, werde ich zu ihm sagen, mein Leben wartet auf deines, und ich versuche, mich an sein Zimmer zu erinnern, damals war ich nicht fähig, etwas zu sehen, nur ein gedämpftes violettes, tröstliches Licht, an seinen Blick erinnere ich mich, mitleidig und erschreckt, als würde er eine überfahrene Katze betrachten. An der Wand gegenüber hängt das bekannte Foto eines grauen ovalen Steins, des Steins von Rosetta, ägyptische Hieroglyphen neben alten griechischen Buchstaben, Tausende von Jahren haben sie auf ihre Entzifferung gewartet, eine beispiellos reiche antike Kultur schaut hinter ihnen hervor, wer hat das Bild hier aufgehängt, vor meinen wartenden Augen, die sich danach sehnen, die verborgenen Buchstaben der Seele zu entziffern, gleicht unsere Seele doch am ehesten den minoischen Schrifttafeln, es ist ein Code, der sich letzten Endes nur aus eigener Kraft entziffern lässt.
    Am Ende des Flurs geht eine Tür auf, aber niemand kommt ins Wartezimmer, vermutlich gibt es dort einen geheimen Ausgang, um die Privatsphäre der Patienten zu schützen, und jetzt geht sie mit absichtlich langsamen Schritten zu ihm, in einem engen Rock und einem Wollpullover, der ihre schweren Brüste betont, ist das seine Stimme, ist das sein Lachen, ich glaube meinen Namen zu hören und richte mich auf, aber die Stimmen kommen aus dem Treppenhaus, es sind wohl die erleichterten Seufzer derjenigen, die die Zahnarztpraxis verlassen. Warum hält sie sich dort so lange auf, warum schickt er sie nicht, um mich hereinzurufen, warum kommt er nicht heraus zu mir, ich senke die Augen, vor Anspannung verkrampfen sich meine Glieder, es ist, als wartete ich auf das Ergebnis einer schicksalhaften Untersuchung, da kommen ihre spitzen Stiefel auf mich zu, mit einem harten Klopfen, das nichts Gutes verheißt, sie bleibt vor mir stehen und hält mir ein Stück Papier hin, und ich frage mit schwacher Stimme, was ist das, und sie antwortet, das, was Sie haben wollten, das Rezept, ich nehme ihr den Zettel aus der Hand und sage, aber das ist nicht genug, ich muss ihn sehen.
    Das ist im Moment ausgeschlossen, sagt sie, Sie wollten das Rezept, Sie haben es bekommen, wenn Sie mit ihm sprechen wollen, hinterlassen Sie Namen und Telefonnummer und er wird zurückrufen, und ich versuche, mir die Kränkung nicht anmerken zu lassen, prüfe interessiert das Stück Papier, vielleicht hat er noch ein paar Worte oder Zahlen darauf geschrieben, zum Beispiel die Nummer seines Handys, aber ich entdecke keine zusätzliche Notiz, nur meinen Namen und den Namen des Medikaments, nebeneinander, mit langen, etwas zur Seite geneigten Buchstaben, ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass er nicht frei ist, dass er nicht interessiert ist?
    Haben Sie ihm gesagt, dass ich hier warte, frage ich, und sie antwortet gleichgültig, natürlich habe ich das, dann läuft sie zum Telefon, das angefangen hat zu klingeln, und ich verschwinde schnell aus dem Gebäude und betrachte wieder das Stück Papier in meiner Hand, Schauer von Verzweiflung nehmen mir die Sicht, und ich lehne mich an den feuchten Stamm einer Kiefer, die mitten auf dem Platz steht wie ein Pfeil, der vom Himmel geschossen wurde, mein Leben, erneut leer geworden, läuft in seiner ganzen abstoßenden Nacktheit vor mir ab, wie ein gekränktes

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