Lieblose Legenden
es
gibt noch allzuviele — möchte ich seine
Persönlichkeit kurz umreißen.
Golch, der im Jahre 1929
sechsundachtzigjährig starb, war zeit seines Lebens — abgesehen von einer
äußerlich ebenso ereignislosen Jugendzeit — Studienrat in Altmünzach ,
einer Stadt, in welcher Schnellzüge nicht halten. Wohl weniger dieser Tatsache
als vielmehr seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Bereich der Abwechslung ist
es zu verdanken, daß er diese Stadt niemals verlassen und sein Leben mit
unermüdlicher Konzentration seinem Werk gewidmet hat. (Mein Kapitel »Innere
Reisen« befaßt sich mit diesen Gedankengängen und verfolgt sie auf einer Ebene,
welche den Rahmen dieser kurzen Rechtfertigung sprengen würde.)
Hier also lehrte Golch an der
Töchterrealschule — denn eine solche gab es dort und gibt es noch heute — Englisch
und Deutsch. Nach einigen analytischen Versuchen, von denen vielleicht der
Essay »Körners Frauengestalten« der stärkste ist — leider dürfte er, wegen der
Zeitgebundenheit des Themas, heute kaum noch Beachtung finden — widmete er sich
seinem magnum opus , welches
Leben und Werk James Boswells, des bedeutenden Biographen Johnsons, des
unsterblichen Lexikographen, behandelt. Es ist dies ein Werk nicht nur von
großer psychologischer Dichte und ungeheurer Eindringlichkeit, sondern es
übertrifft an quantitativem Inhalt — es umfaßt neun Bände — das Lebenswerk
Boswells sowie Johnsons.
Ich will meinem Buch hier nichts
vorwegnehmen, möchte aber betonen — und der Leser wird die hier etwa zutage
tretende Selbstsicherheit gerechtfertigt finden — , daß es mir in meinem Werk,
welches inzwischen bis auf das Schlußkapitel »Über das Wesen der Biographie« im
Manuskript vorliegt, nicht nur gelungen ist, das starke Boswell-Erlebnis meines
Helden in zwingender Weise zu schildern, sondern daß ich auch, umgekehrt,
Boswell im Lichte Golchs beleuchtet habe, bei welchem
Vorgang ich den eigenwilligen Doktor Johnson hinwiederum durch Boswells Brille gesehen habe (metaphorisch gemeint: Boswell trug keine
Brille), wie er, durch Golch gedeutet, nun mir erscheint; gewissermaßen also
eine dreifache Überblendung der Kernpersönlichkeit ( - in diesem Sinne ein von
mir geprägter Begriff; er hat nichts mit der Schule des C. G. Jung zu tun — )
Doktor Johnsons.
Mein Buch ist gut, daran ist kein
Zweifel. Es füllt eine Lücke. Ich möchte sogar wagen zu behaupten, daß die
solide Kennerschaft und das Vermögen, mich in die Mentalität verwandter Geister
zu versetzen, welche beide Tugenden sich in diesem Buch offenbaren, dereinst
einen Biographen bewegen werden, mir, in meiner Eigenschaft als Golch-Biograph , zumindest einen ausführlichen Nachruf zu
widmen. Und was die Behauptung betrifft, ich schreibe an einem Buch über Kafka,
so wird sie mit dem Erscheinen meines Werkes widerlegt sein. Denn daß man nicht
über Kafka und über Golch schreiben kann, wird selbst den Besitzern
böser Zungen einleuchten.
1956 — ein Pilzjahr
Das Jahr 1956 ist beinah vergangen, und
mit ihm verklingt das Gedenken an viele Unsterbliche, deren Geburts- und
Todestage man während mehrerer feier- und festspielreicher Monate begangen hat:
Mozart, Heine, Rembrandt, Caesar und Freud — Festredner, Kranzspender,
Staatschefs und das diplomatische Corps sind kaum zur Ruhe gekommen. — Einen
aber hat man vergessen: Gottlieb Theodor Pilz, der, vor hundert Jahren, am 12.
September 1856 starb.
Seine Bedeutung wird heute weit
unterschätzt. Das ist nicht verwunderlich. Denn er war weniger ein Schöpfer als
ein Dämpfer. Sein Beitrag zur Geschichte der abendländischen Kultur kommt in
der Nichtexistenz von Werken zum Ausdruck, Werken, die durch sein mutiges,
opferbereites Dazwischentreten niemals entstanden sind. Es ist demnach kein
Wunder, daß die Nachwelt, die ja gewohnt ist, die großen Geister nach ihrem
Schaffen und nicht nach ihrer Unterlassung zu werten, seiner selten, wenn
überhaupt je gedenkt.
Gottlieb Theodor Pilz wurde 1789 als
Sohn wohlhabender protestantischer Eltern in Dinkelsbühl oder Nördlingen
geboren. Der Streit um seinen wahren Geburtsort ist niemals gültig entschieden
worden, daher zeigen beide Städte sein Geburtshaus. (Vergleiche G. S. Grützbacher : »Ist Pilz Dinkelsbühler ?
Beiträge zu einer Streitfrage.« Blätter für angewandte Kultur, Jahrgang XXII,
1881.) Die Eindrücke seiner Jugend trugen Wesentliches zu Gottlieb Theodors
Entwicklung bei . [ 1 ] Von seiner Mutter
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