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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Papier gebracht und will sie vorlesen. Pilz wehrt nicht nur
energisch ab, sondern beginnt, bei dieser Gelegenheit, dem Älteren ins Gewissen
zu reden: Jahn sei auf der falschen Bahn. Hermannsschlachten gäbe es schon und würde es auch in Zukunft zur Genüge geben. ( - Prophetische
Worte! — ) Nein, so argumentiert Pilz, ohne das Maß seiner geistigen Gaben in
irgendeiner Weise schmälern zu wollen, lägen vielleicht seine wirklichen
Fähigkeiten doch auf einem anderen Gebiet — ja, habe er denn nicht überhaupt
einen geheimen Hang zu Leibesübungen? Wie wäre es denn — so Pilz — wenn er
diesen Hang zu erhabener Berufung mache und sein Leben der Aufgabe weihe, die
deutsche Jugend durch körperliche Zucht zu kräftigen, indem er ihr diese durch
Vorexerzieren vermittle? Vielleicht gar solle er sich »Turnvater Jahn« nennen,
welcher Name ihm sofort einen gewissen bleibenden Nimbus verleihen werde! — Jahn
entzündet sich sogleich an dieser — in der Tat außerordentlichen — Idee,
zerreißt das Manuskript seiner Hermannsschlacht und
hat, soweit bekannt ist, niemals wieder an einem Schauspiel gearbeitet. Im
Jahre 1811 wird ihm der erste Turnplatz gebaut.
    Wo Pilz die nächsten drei Jahre
verbrachte, ist unbekannt. 1814 treffen wir ihn in Wien, wo er der Uraufführung
der Neufassung des »Fidelio« beiwohnt. Über den Eindruck, den diese Oper dem
damals Fünfundzwanzigjährigen hinterlassen hat, ist nichts bekannt. Es ist
anzunehmen, daß er sich zu diesem Werk nicht äußerte. Wir wissen jedoch, daß er
während seiner Wiener Zeit persönlichen Verkehr mit Beethoven pflegte, und die
unproduktive Periode des Meisters, die bekanntlich von 1814 bis 1818 währte,
mag wohl auf diese Begegnungen zurückzuführen sein; aber das ist lediglich eine
These, die wohl der Belegung durch zukünftige Forscher bedarf.
    In das Jahr 1815 fällt der zweite
Brief. Er ist an seinen Vater gerichtet. In diesem Brief schreibt er, daß es
ihm gelungen sei, Mühlwesel [ 3 ] von seinem Vorhaben abzubringen, eine Operntrilogie über das
Geschlecht der Habsburger zu schreiben, indem er ihn in das Vergnügen des
Tarockspiels eingeweiht habe. »M. war zuerst hartnäckig, indem er behauptete,
er sei Musiker, nicht Müßiggänger, und was ein Beethoven könne, könne ein Mühlwesel auch. Das sey zwar
möglich, erwiderte ich, doch sey dies kein Grund,
sein Vorhaben auch in die Tat umzusetzen. Wohin kämen wir denn, sagte ich, wenn
wir all das tun wollten, was ein anderer auch könne! Schließlich ließ er sich
überreden. — Ich selbst gedenke, mich in der Schweyz einige Wochen von den Anstrengungen der letzten Zeit zu erholen .«
    Aus einigen Wochen werden mehrere
Jahre. Madame de Staël sieht ihn 1819 am Ufer des Genfer See in der Nähe ihres Landsitzes in der Sonne
liegen. Auf ihren Anruf reagiert er nicht. Es ist anzunehmen, daß er sich
schlafend stellte, denn ihre Gesellschaft bot ihm nichts Verlockendes. Auch
darin unterscheidet sich Pilz von zahlreichen Männern seiner Zeit.
    1821 kehrt Pilz nach Berlin zurück, wo
er, unter anderen, E. Th. A. Hoffmann begegnet. Von diesem läßt er sich eines
Abends überreden, zusammen mit ihm und Ludwig Devrient bei Luther und Wegener
zu zechen. Dem Wein von je alles andere als abhold, sieht er hier die
Gelegenheit, sein Jugenddrama dem Theatermann Devrient vorzulegen. Aber dazu
kommt es nicht. Denn am Nebentisch sitzt ein junger Mann, der sich »in seiner
tiefen Trunkenheit gar gräßlich gebärdete«. Pilz erfährt, daß dieser ein
Student namens Grabbe sei, Christian Dietrich mit Vornamen, der sich einbilde,
ein Dichter zu sein und es als seine Mission betrachte, Shakespeare von der
deutschen Bühne zu verdrängen.
    Gottlieb Theodors Interesse ist
geweckt. Er geht hinüber zum Tisch des jungen Mannes, der ihn sogleich mit
unflätigem Lallen überfällt, in welchem Pilz alsbald die fixe Idee dieses
Kauzes erkennt: Shakespeare sei ein Stümper gewesen und tauge bestenfalls zum
Verfasser von Operntexten. Pilz hält es mit Recht für sinnlos, auf dieses
Gespräch ernsthaft einzugehen, und sucht den anderen zu beschwichtigen, indem
er ihm zutrinkt. Aber Grabbe läßt sich von seinem Thema nicht abbringen und
zieht, um seine kaum noch verständlichen Worte zu bekräftigen, ein Manuskript
aus der Tasche, das er Pilz hinwirft: seine Bearbeitung von Shakespeares
»Lustigen Weibern von Windsor« als Libretto. Pilz steckt es ein, und als Grabbe
es zurückfordert, wirft jener — nun selbst nicht mehr

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