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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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werden es bedauern. Wenn man den Leichnam sieht, weiß man, was der Tod ist. Mehr als ein Verschwinden. Kommen Sie, wir gehen.»
    Â«Wohin?»
    Â«Ich bringe Sie hin. Ich kenne den Chef, er ist ein ehemaliger Kollege meines Mannes, sie sind zusammen zur See gefahren. Auf einem Kabellegerschiff. Er überlässt mir den Schlüssel.»
    Der torfige Whisky ist sich mit dem Ohrensessel einig: Wir würden gerne hierbleiben, alle drei, unter Freunden, uns nicht bewegen, aber wie könnte man sich Madame Maudez widersetzen?
    Madame Maudez fährt gern Auto. Sie besitzt eine Art Super-Ente, einen Ami 6, der sich in die Kurven legt. Sie fährt wie eine Irre. Und schon sind wir in der neu errichteten Leichenhalle. Es riecht noch nach Farbe. Und als wir das Licht anknipsen, ertönt sanfte Musik.
    Madame Maudez ist zufrieden: Ein Leichnam ist da, liegt vor uns, der Körper einer Frau. Ein Körper, der diese sanfte Musik nicht ausstehen kann, dessen bin ich sicher. Zum ersten gemeinsamen Abendessen in der Rue de la Fédération hatte sie mir Mano Negra mitgebracht. Ich höre noch, wie sie sich über mich lustig machte: «Diese Mischlingsmusik bringt Ihr Universum durcheinander, hab ich recht?»
    Madame Maudez ist für einen Augenblick still geblieben. Ich bin ihr von ganzem Herzen dankbar dafür. Ich weiß, welche Mühe es sie kostet, nicht zu reden. Ich weiß, dass es irgendwann zu viel für sie ist. Sie gibt auf:
    Â«Sie weinen? Ausgezeichnet! Das ist der Vorteil, wenn man Ihnen den Leichnam zurückgibt. Ein Leichnam rührt zu Tränen. Ich werde Sie jetzt allein lassen, oder soll ich Sie zurückbegleiten?»
    Der Torf und der Ohrensessel warteten so ungeduldig auf mich, dass ich einen Moment lang überzeugt war, sie hätten mir ein Abendessen bereitet.
    Und so begann schließlich der Tag.

 
    Â 
    Ich habe seine Schliche verfolgt.
    Ich weiß alles von ihm, dem Tod, ich sah ihn auf die Welt kommen.
    Es war an einem Morgen in der Sprechstunde. Der Arzt beugte sich über sie, senkte den kleinen runden Spiegel in den Mund meiner Sonne, direkt hinter die blauen Augen, er sah hinein und schüttelte den Kopf. Meine Frau begann zu zittern. Ich weiß jetzt, was es heißt zu zittern: Meine Hände lagen auf ihren Schultern. In diesem Augenblick kam der Tod zur Welt, noch bevor die Diagnose gestellt war, noch bevor die schreckliche Operation anberaumt wurde.
    Und dann spürte ich, wie er mit den Behandlungen und den Kontrollbesuchen wuchs, das heißt, mit den enttäuschten Hoffnungen.
    Anfangs gab er sich unscheinbar, schlich sich in die Sätze ein, die mir vor allem nachts, gegen vier Uhr früh einfielen: Und wenn sie doch? Wenn alle diese Qualen nutzlos wären? Wenn die Ärzte nichts ausrichten könnten? Und wenn? Und wenn? Eine unterordnende Konjunktion, eine einfache Konjunktion. Zwei winzige Worte, um eine Annahme auszudrücken, die immer düsterer, immer gewisser wurde.
    Glauben Sie mir, am Ende hatte er sich bei uns breitgemacht. Er ließ uns nicht mehr in Ruhe, hängte sich an uns wie unser Schatten. Er höhnte: Wenn ich du wäre, würde ich deine Frau genau ansehen, ich würde möglichst viel von ihr aufnehmen, von ihrer Anmut, ihrerFröhlichkeit, ihren blauen Augen, ihrer Poesie … Denn bald wird es zu spät sein.
    In der Kirche schlich er triumphierend um den Sarg; aus den Augenwinkeln belauerte er seine künftige, bald fällige Beute, meine Mutter, meinen Vater, und dann uns alle, er wusste, dass er sich Zeit lassen konnte, er hatte uns schon am Schlafittchen.
    Einmal nutzte er einen meiner unterdrückten Schluchzer und stürzte sich auf mich. Ich hätte ihn gerne empfangen: Fühlen Sie sich wie zu Hause, Sie sind es ohnehin schon. Doch meine beiden Schutzengel, meine Kinder, wehrten ihn ab: Von Tagesanbruch an waren sie nicht mehr von meiner Seite gewichen, Judith zu meiner Linken, Sébastien zu meiner Rechten. Ihre Hände ruhten fest auf meinen Schultern, jetzt wissen bestimmt auch sie, was es heißt zu zittern.
    Er war nicht beharrlich.
    Er zog weiter, um jemand anderen zu reißen. Wir wussten, er würde wiederkommen.

 
    Â 
    Sie müssen wissen, bevor Sie sich auf mich einlassen, mit wem Sie es zu tun haben, denn sind Sie erst einmal mit mir zusammen, werden Sie ein Teil von mir, deshalb muss ich Ihnen sagen, auch wenn ich dieses Geständnis seit dem ersten Tag, seit dem

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