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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Augenblick neun, zehn Stunden gedauert hat …? Trotzdem gibt es Zeugen dafür: den Wecker oder die Ehefrau oder das Tageslicht. Alle bestätigen es: Nie habe ich dich so gelöst erlebt.
    Eines Tages kam sie. Mit Koffern, mit vielen Büchern (viel Geisteswissenschaft), mit einem Plakat von Miró («Ich habe mich nicht verändert»). Und mit Louise.
    Eines Tages ging sie wieder fort. Ins Krankenhaus.
    Zwischen diesen beiden Tagen sind anscheinend vier Jahre vergangen.
    Noch heute beargwöhne ich alle Leute, die mir das versichern. Natürlich könnte ich mein Gedächtnis herbeizitieren. Ich könnte seine Augen hell erleuchten und ihm den Befehl erteilen, mir diese 1460 Tage bis in die kleinsten Einzelheiten zu erzählen. Es würde gehorchen, ich kenne mein Gedächtnis. Es wäre ihm ein Vergnügen, mir diese oder jene Szene, die Reisen, die Hochgefühle mit allen pikanten Details zu schildern.
    Aber ich ziehe es vor, nur das Ganze in meiner Erinnerung zu bewahren: ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit; das Unverhoffte und die Freiheit.
    Täglich, oder fast täglich, auf alle Fälle jede Nacht, machten wir die Leinen los, segelten von Neuem über das Meer oder durch die Luft einem unbekannten Ziel entgegen. Stellen Sie sich vor: Neben meiner Schriftstellerei arbeitete ich damals als Verwaltungsrichter. Ich verbrachte meine Zeit mit der Flurbereinigung im ländlichen Raum, der Berechnung von Rentenansprüchen, der Finanzierung von Krankenhauskosten. Und dann platzte eine Sonne mitten hinein in diese Welt. Meinen Freunden zufolge verhielt ich mich nicht mehr sehr vernünftig. Mein Vorgesetzter im Staatsrat, Renaud Denoix de Saint Marc, sah mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Ich verstand sehr wohl: Er machte sich Sorgen. Würde dieser verliebte Mann, dem seine Liebe so den Kopf verdreht hatte, noch vernünftig genug für klare Urteile sein? Zum Glück hatten meine Kollegen im Staatsrat ein Auge auf mich.
    Jeden Morgen sahen der Alltag und seine Cousine, die Routine, die Sonne und mich in See stechen. Beide, der Alltag und seine Cousine, hatten sich mit verschränkten Armen auf dem Kai aufgepflanzt. Mit boshafter Miene versuchten sie nicht einmal mehr, uns zurückzuhalten. Man sah, wie ihre Lippen zuckten. Sie heckten etwas aus. So einfach lässt der Alltag seine Beute nicht laufen. Er würde alles tun, um uns den Kopf zurechtzurücken.

 
    Â 
    Für den letzten Monat hatte sie beschlossen, nach Hause zurückzukehren, in den äußersten Westen: Dahinter war nur noch der Ozean. Während der ersten Tage des letzten Monats konnte sie nicht mehr aufstehen.
    Und dann ging sie plötzlich spazieren. Sie taumelte, sie schwankte und stürzte häufig. Doch sie ging spazieren. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, ohne Ankündigung.
    Die Familie frühstückte unter der Akazie. Da sahen wir sie kommen, weiß, eine magere, weiße Gestalt, und wie mager. Ein Schritt, Pause, der nächste Schritt. Es war ausnahmsweise windstill, und dennoch ging sie gebeugt. Wer hatte ihr den Strohhut aufgesetzt? Ihre Finger zitterten so sehr.
    Die Kinder eilten ihr entgegen. Alle klatschten. Wir rückten zusammen, um ihr Platz zu machen. Willkommen bei uns, Geliebte, du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, aber der Albtraum ist vorüber, einen Fingerhut, willst du wirklich nur einen Fingerhut voll Wein? Dieser Wille, ans Leben zu glauben, war noch schmerzhafter als die Traurigkeit.
    Sie blieb nur einen kurzen Augenblick bei uns. Dann stand sie wieder auf. So gut es ging. Lehnte jede Hilfe ab. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Derselbe unmerkliche Wind blies sie an, sie beugte sich, neigte sich zur Seite wie ein Segel. Und der Boden schwankte. Sie legte sich wieder hin (sie fiel aufs Bett). Der Strohhut rutschte nicht vom Kopf.
    Doch in der Regel zog sie es vor, nachts spazieren zu gehen. Wir wechselten uns ab, wachten am Bett. Ein Knarren. Ein Rascheln. Eine weiße Gestalt löste sich langsam, langsam aus den Decken. Sie machte sich wieder auf. Ging nie sehr weit. Immer kleinere Strecken. Ins Wohnzimmer, auf die Terrasse, in die Küche. Wir hatten den Gashahn draußen abgedreht wie bei Kindern. Sie runzelte die Stirn und gab sich Mühe. Sie betrachtete alles aufmerksam. Man hätte meinen können, sie redete. Vielleicht verabschiedete sie sich? Mit spanischen Worten, allein mit spanischen Worten. Schnell sank sie wieder nieder.

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