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Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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herankommen lassen.
    Ruhig und bedächtig zog ich einen langen, grauen Pfeil aus meinem Köcher und setzte ihn auf die Sehne. Es war Nacht, gewiß, aber ich machte mir keine ernsthaften Sorgen. Ich war ein guter Schütze, und mein Ziel war durch die leuchtenden Fäden seines Netzes gut umrissen.
    Crystal kreischte.
    Ich hielt kurz inne, ärgerlich darüber, daß sie in Panik geriet, wenn alles unter Kontrolle war. Aber ich wußte natürlich die ganze Zeit, daß sie das nicht tun würde. Es war etwas anderes. Einen Augenblick lang konnte ich mir nicht vorstellen, was das sein mochte.
    Dann sah ich es, als ich Crys' Blick folgte. Eine dicke weiße Spinne vom Umfang einer großen Männerfaust war von der Pseudoeiche auf die Brücke heruntergesprungen, wo wir standen, keine drei Meter entfernt. Zum Glück war Crystal hinter mir in Sicherheit.
    Ich stand dort – wie lange? Ich weiß es nicht. Wenn ich einfach gehandelt hätte, ohne innezuhalten, ohne nachzudenken, wäre ich mit allem fertig geworden. Ich hätte zuerst das Männchen erledigen sollen, mit dem Pfeil, den ich schußbereit hatte. Es wäre Zeit genug geblieben, einen zweiten Pfeil für das Weibchen zu ziehen.
    Aber statt dessen erstarrte ich, gefangen in diesem dunklen, glitzernden Augenblick, einen zeitlosen Lidschlag lang, den Bogen in der Hand, und doch unfähig, zu handeln.
    Es war plötzlich alles so kompliziert. Das Weibchen krabbelte auf mich zu, schneller, als ich das für möglich gehalten hätte, und es schien um so vieles schneller und tödlicher zu sein als das langsame, weiße Ding unter mir. Vielleicht sollte ich das Weibchen zuerst töten. Ich mochte verfehlen, und dann brauchte ich Zeit, um mein Messer oder einen zweiten Pfeil zu ziehen.
    Nur würde dann Gerry gefesselt und hilflos vor den Kiefern des Männchens liegen, das sich ihm unerbittlich näherte. Er konnte sterben. Crystal würde mir das nie vorwerfen können. Ich mußte mich selbst retten, und sie, das würde sie verstehen. Und ich würde sie wieder bekommen.
    Ja-
    NEIN!
    Crystal kreischte, kreischte, und plötzlich war alles ganz klar, und ich wußte, was alles zu bedeuten hatte, und warum ich hier in diesem Wald war, und was ich tun mußte. Es gab einen Augenblick grandioser Erhabenheit. Ich hatte die Gabe verloren, sie glücklich zu machen, meine Crystal, aber nun war für einen Moment erstarrter Zeit diese Macht zu mir zurückgekehrt, und ich konnte Glück für immer geben oder vorenthalten. Mit einem Pfeil konnte ich eine Liebe beweisen, der Gerry nichts zur Seite zu stellen hatte.
    Ich glaube, ich habe gelächelt. Ich bin überzeugt davon.
    Und mein Pfeil flog dunkel durch die kühle Nacht und fand sein Ziel in der aufgedunsenen weißen Spinne, die über ein Lichtnetz kroch.
    Das Weibchen hatte mich erreicht, und ich unternahm nichts, um es wegzustoßen oder zu zertreten. Ich spürte einen scharfen, stechenden Schmerz an meinem Knöchel.
    Glitzernd und vielfarbig sind die Netze, die Traumspinnen weben.
    Nachts, wenn ich aus den Wäldern zurückkehre, säubere ich sorgfältig meine Pfeile und klappe mein großes Messer mit seiner scharfen, schmalen Klinge auf, um die Giftsäcke auseinanderzuschneiden, die ich gesammelt habe. Ich schlitze sie der Reihe nach auf, wie ich sie zuvor aus den regungslosen, weißen Körpern der Traumspinnen geschnitten habe, und dann lasse ich das Gift in eine Flasche laufen, für den Tag, an dem Korbec herüberfliegt, um sie abzuholen.
    Danach stellte ich den Miniaturkelch hinaus, der kunstvoll gewirkt ist aus Silber und Obsidian, und fülle ihn mit dem schweren schwarzen Wein, den sie mir aus der Stadt bringen. Ich rühre mit meinem Messer um, immer wieder, bis die Klinge wieder hell glänzt und der Wein ein wenig dunkler ist als zuvor. Und ich steige hinauf zum Dach.
    Dann fallen mir oft Korbecs Worte ein, und mit ihnen meine Geschichte. Crystal, meine Liebe, und Gerry, und eine Nacht von Lichtern und Spinnen. Es erschien alles so richtig in diesem kurzen Augenblick, als ich auf der moosbewachsenen Brücke stand, einen Pfeil in meiner Hand, und die Entscheidung traf. Und es ist alles so ganz, ganz falsch geworden ...
    ... von dem Augenblick an, als ich nach einem Monat Fieber und Visionen erwachte, um mich im Turm zu finden, wohin Crys und Gerry mich gebracht und wo sie mich gesundgepflegt hatten. Meine Entscheidung, mein erhabener Entschluß, war nicht so endgültig, wie ich gemeint hatte.
    Manchmal frage ich mich, ob es wirklich eine Wahl gewesen

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