Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
Vom Netzwerk:
ein edler und uneigensüchtiger war. Ich wollte einfach, daß Crys glücklich war, und sie konnte dort mit mir nicht glücklich sein. Meine Wunden waren zu tief, und ich war nicht geschickt darin, sie zu verbergen; meine Gegenwart legte den Dämpfer der Schuld auf die neugeborene Freude, die sie mit Gerry gefunden hatte. Und da sie es nicht ertragen konnte, einen totalen Schnitt vorzunehmen, fühlte ich mich gezwungen, ihn selbst durchzuführen. Für sie beide. Für Crystal.
    Das redete ich mir jedenfalls gerne ein. Aber es gab Stunden, da schrumpfte das moralische Mäntelchen, in dunklen Stunden des Abscheus vor mir selbst. Waren das die wirklichen Gründe? Oder zielte ich nur darauf ab, mir in einem Anfall zorniger Unreife selbst weh zu tun und sie damit zu bestrafen – wie ein trotziges Kind, das als Form der Rache mit Selbstmordgedanken spielt?
    Ich wußte es ehrlich nicht. Einen Monat lang war ich zwischen den beiden Meinungen hin- und hergependelt, während ich mich bemühte, mich selbst zu verstehen und zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ich wollte mich für einen Helden halten, entschlossen, dem Glück der Frau, die ich liebte, ein Opfer zu bringen. Aber Gerrys Worte machten deutlich, daß er das ganz und gar nicht so sah.
    »Warum mußt du immer alles so dramatisieren?« sagte er mit störrischer Miene. Er war von Anfang an entschlossen gewesen, sehr zivilisiert zu sein, und schien sich fortwährend über mich zu ärgern, weil ich mich nicht ermannen und meine Wunden heilen wollte, damit wir alle Freunde sein konnten. Nichts ärgert mich so sehr wie seine Verärgerung; ich glaubte, daß ich, wenn man alles in Betracht zog, mit der Situation recht gut fertig wurde, und nahm die Unterstellung übel, daß dem nicht so sei.
    Aber Gerry hatte den Entschluß gefaßt, mich zu bekehren, und mein vernichtendster Blick auf ihn war vergeudet.
    »Wir werden hierbleiben und uns offen aussprechen, bis du bereit bist, mit uns nach Port Jamison zurückzufliegen«, erklärte er mir in seinem entschiedensten ›Jetzt-werde-ich-aber-grimmig‹-Ton.
    »Laß den Scheiß«, sagte ich, drehte mich abrupt herum und riß einen Pfeil aus meinem Köcher. Ich legte ihn ein, spannte und ließ los, viel zu schnell. Der Pfeil verfehlte das Ziel um fast einen halben Meter und bohrte sich in das weiche, dunkle Mauerwerk meines zerfallenden Turmes.
    »Was ist das überhaupt für ein Ort?« fragte Crys und starrte den Turm an, als sähe sie ihn zum erstenmal. Es war möglich, daß das zutraf – daß es des Anblicks meines im Stein steckenden Pfeils bedurfte, um sie auf das uralte Bauwerk aufmerksam zu machen. Aber eher war es wohl ein bewußter Themawechsel, dazu bestimmt, den Streit zu dämpfen, der sich zwischen Gerry und mir anbahnte.
    Ich ließ den Bogen wieder sinken und ging zur Zielscheibe, um die verschossenen Pfeile zu holen.
    »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher«, sagte ich etwas besänftigt und bemüht, ihr Stichwort aufzunehmen. »Ein Wachturm, glaube ich, nichtmenschlichen Ursprungs. Jamisons Welt ist nie gründlich erforscht worden. Es könnte hier einmal eine intelligente Rasse gegeben haben.« Ich ging um die Zielscheibe herum zum Turm und riß den letzten Pfeil aus dem bröckelnden Mauerwerk. »Vielleicht gibt es sie immer noch. Wir wissen sehr wenig von den Dingen, die auf dem Festland vorgehen.«
    »Ein verdammt düsterer Aufenthaltsort, wenn du mich fragst«, warf Gerry ein und besah sich den Turm. »Könnte jeden Augenblick einstürzen, so, wie das aussieht.«
    Ich lächelte ihn gedankenverloren an.
    »Der Gedanke ist mir schon gekommen. Aber als ich hier eintraf, war mir das völlig gleichgültig.«
    Ich bereute es sofort, das gesagt zu haben; Crys zuckte merklich zusammen. Das war die ganze Geschichte meiner letzten Wochen in Port Jamison gewesen. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich schien nur zwei Möglichkeiten zu haben: Ich konnte lügen oder ihr weh tun. Beides behagte mir nicht, und so war ich hier. Aber sie waren auch da, und die ganze unmögliche Situation hatte sich wieder eingestellt.
    Gerry hatte wieder einen Kommentar parat, aber loswerden konnte er ihn nicht. Im nächsten Augenblick kam nämlich Squirrel aus dem Unkraut gesprungen und lief auf Crystal zu.
    Sie lächelte ihn an und kniete nieder, und dann war er bei ihr, leckte ihr die Hand und kaute an ihren Fingern. Squirrel war offensichtlich guter Dinge. Das Leben rund um den Turm gefiel ihm. In Port Jamison war sein Leben durch Crystals

Weitere Kostenlose Bücher