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Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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Nachmittag stellte sich meist Appetit ein. Dann machte er sich auf den Weg zur ›Old Lady‹. Es gab in der Gegend Dutzende von Meeresfrüchte-Lokalen, aber die ›Old Lady‹ war das beste.
    Er war an diesem Tag gerade mit der Vorspeise fertig, als Bryl sich an seinen Tisch setzte.
    »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Bryl schnell.
    Colmer wollte essen, keine Gesellschaft. Er zog ein wenig die Brauen zusammen.
    »Ich habe ein Büro«, sagte er.
    »Führen Sie Akten über jeden Klienten?«
    »Selbstverständlich«, nickte Colmer.
    »Ich will keine Akte. Deshalb habe ich mich hier herumgetrieben. Man hat mir gesagt, daß Adrian Colmer immer in der ›Old Lady‹ ißt, daß ich Sie hier finde, wenn ich lange genug warte. Ich wußte nicht, ob ich lange genug warten kann. Aber ich hatte Glück. Bitte, helfen Sie mir.«
    Colmer war plötzlich interessiert, seine Neugier geweckt. Er betrachtete den Fremden an seinem Tisch. Er sah einen großen, hageren Mann, mit einem dunklen Teint. Das Gesicht war eingerahmt von schulterlangen schwarzen Haaren und wurde beherrscht von einer Hakennase. Unauffällige Kleidung, die tausend Männer hätten tragen können. Aber das Gesicht war sonderbar alterslos, der Mann war sehr unruhig, und seine Augen befanden sich unaufhörlich in Bewegung. Das war alles, was Colmer auf einen Blick erkennen konnte.
    Er hätte natürlich tiefloten können. Manche Talente hätten das getan, ohne Rücksicht auf die Berufsethik. Aber Colmer arbeitete nur gegen Honorar.
    Er goß Bryl Wein aus der Flasche auf seinem Tisch ein.
    »Also gut«, sagte er. »Essen Sie, wenn Sie wollen. Und erzählen Sie mir, weshalb Sie Hilfe brauchen.«
    Bryl griff nach dem Glas und trank einen kleinen Schluck. Seine Augen standen nie still.
    »Mein Name ist Ted Bryl. Ich möchte, daß Sie mich ausloten. Hinter mir sind Leute her, wissen Sie. Sie jagen mich schon seit Jahren. Ich bin sicher, daß sie mich töten wollen, aber ich weiß nicht, warum. Soweit ich mich zurückerinnern kann, folgen sie mir und bin ich auf der Flucht.«
    Colmer verflocht die Hände ineinander und stützte das Kinn damit.
    »Das klingt nach Paranoia«, sagte er. Er hielt nichts davon, lange herumzureden.
    Bryl lachte.
    »So klingt es, aber ich bin nicht paranoid. Ich war bei der Polizei, wissen Sie. Man hat mich ausgelotet und weiß, daß es echt ist. Manchmal hat man sogar Leute festgenommen, die hinter mir her waren. Aber sie mußten sie immer wieder laufen lassen. Sie wollen mir nicht helfen.« , »Sehr paranoid.«
    »Die Polizei hat mich ausgelotet, sage ich Ihnen.« Colmer lächelte tolerant.
     »Polizei-Loter«, sagte er. Wie ein Arzt ›Chiropraktiker‹ sagt. »Na gut«, sagte Bryl. »Loten Sie mich aus. Sehen Sie selbst.«
    »Regen Sie sich nicht auf. Wenn Sie an Wahnvorstellungen leiden, kann ich Ihnen vermutlich helfen. Ein Lotmeister ist unter anderem auch ein geprüfter PSI-Psychiater. Aber von einem Honorar haben Sie noch nicht gesprochen.«
    »Ich kann Ihr Honorar nicht aufbringen. Ich habe nicht viel Geld. Ich bekomme Arbeit, bleibe aber nie lange. Ich muß fliehen. Sie sind nie weit hinter mir.«
    »Verstehe.« Colmer betrachtete ihn einige Zeit. »Nun, ich habe im Augenblick nichts anderes zu tun. Ich kann mir ja ansehen, was Ihr Problem ist. Aber wenn Sie irgend jemandem erzählen, daß ich ohne Honorar tätig war, bestreite ich das. Versteht sich.«
    »Versteht sich«, sagte Bryl.
    Colmer lotete ihn aus.
    Es war in weniger als einer Minute vorbei; ein schnelles öffnen von Colmers Denken, ein Trinken, ein Aussaugen. Für einen Ahnungslosen nur ein langer, leerer Blick.
    Dann lehnte Colmer sich zurück, rieb sich das Kinn und griff nach dem Wein.
    »Es ist echt«, sagte er. »Wie eigenartig.«
    Bryl lächelte.
    »Das sagten die Polizei-Loter auch. Aber warum! Warum sind sie hinter mir her?«
    »Sie wissen es nicht. Also kann ich es auch nicht wissen, wenn ich nicht einen von ihnen auslote. Sie haben übrigens eine Schranke.«
    »Eine Schranke?«
    »Eine Denkblockade. Ihre Erinnerung reicht fünf Jahre und einige Monate zurück, dann springt sie über auf Ihre Jugend. Die übrigens schon ziemlich lange zurückliegt.
    Zweifellos haben Sie Verjüngungen durchgemacht. In Ihrem Kopf besteht ein großes Loch. Jemand hat Sie, aus irgendeinem Grund, da oben stark abgeschirmt.«
    Bryl wirkte plötzlich angstvoll.
    »Ich weiß«, sagte er. »Ich glaube, das sind sie gewesen. Ich muß irgend etwas wissen, etwas Wichtiges. Deshalb haben sie mir das

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