Lilienblut
»wir wollen dich nicht von deiner knappen Freizeit abhalten. Du hast ja jetzt viel zu tun, wie man hört.« Sie drehte sich zu ihren kichernden Freundinnen um, die auch alle nicht viel besser aussahen. »Wenn dir deine Mama da nur kein Ü-Ei ins Geburtstagsnest gelegt hat …«
Sabrina, die schon fast wieder auf dem Weg Richtung Marktplatz war, wandte sich um und machte einen Schritt auf Janine zu. »Wie meinst du das?«
»Ü-Ei? Überraschungsei. Gleich drei Dinge auf einmal. Scheiße, Scheiße und als drittes: Scheiße.«
Mit einem vielsagenden Lächeln wollte Janine durch die
Schiebetür des Geschäfts rauschen, die sich bereitwillig öffnete, aber Sabrina stellte sich vor sie. »Das erklärst du mir bitte genauer.«
»Ach nö. Mein Vater hat gesagt, ist alles noch nicht spruchreif. Aber wenn es so weit ist, dann erfahrt ihr es natürlich zuerst. Ich darf doch? Ich möchte mir was für den Urlaub aussuchen. Wir fahren nach Mallorca. Und ihr?«
Janine schob Sabrina zur Seite und marschierte in den Laden. Ihre Gefolgschaft eilte hinterher.
Auf dem Weg zum Marktplatz überlegte Sabrina, was Janine gemeint haben könnte. Arbeitete deren Vater nicht in der Stadtverwaltung? Etwa da, wo es um Verpachtungen von Weinbergen ging? Und was könnte da noch nicht spruchreif sein?
Der Weinberg interessierte sie nicht. Aber die hämischen Andeutungen könnten auch bedeuten, dass Franziska Doberstein etwas entgangen war, das sie hätte beachten sollen. Und das gefiel Sabrina überhaupt nicht. Egal, welche Reibereien sie in letzter Zeit hatten, über ihre Mutter hatte man sich nicht lustig zu machen. Niemand. Erst recht nicht jemand mit dem Aussehen und der Intelligenz einer Weißwurst auf zwei Beinen.
Luigis Eiscafé war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Amelie wieselte zwischen den Tischen herum und balancierte riesige Kalorienbomben auf einem Alutablett.
»Da hinten!«, warf sie ihr zu und deutete mit einem Kopfnicken auf einen freien Stuhl.
Sabrina setzte sich und beobachtete eine Weile das lebhafte Treiben um sie herum. Es war Mittwoch, Markttag. Nicht nur Einheimische, auch viele Touristen besuchten die Stände. Kirschen und Aprikosen aus der Provence, schön wie gemalt, lagen zu hohen Pyramiden aufgetürmt. Dazwischen leuchtend rote Tomaten aus Italien; Äpfel, Erdbeeren, Radieschen aus heimischem Anbau. Der Markt war etwas teurer als die Supermärkte, aber das machte die Qualität mehr als doppelt wett.
Ihr Blick blieb an einem jungen Mann hängen, den sie hier noch nie gesehen hatte. Er war groß und schlank, wirkte sehr sportlich und war, das konnte Sabrina von ihrem Platz aus erkennen, ziemlich braun gebrannt. Er hatte die Ärmel seines Holzfällerhemdes fast bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Das Hemd steckte ein bisschen nachlässig im Bund einer beigefarbenen Hose, die er wohl auch zum Arbeiten anzog, denn sie sah so aus, als ob sie lange und gerne getragen worden wäre.
Er hatte ihr halb den Rücken zugedreht und nahm eine riesige Aprikose von einer der Pyramiden. Wie er das tat, war einzigartig. Er hielt sie in beiden Händen, hob sie hoch und roch daran, und zwar mit einer solchen Inbrunst, als hätte er das noch nie getan. Seine Haare fielen ihm dabei ins Gesicht. Sie waren ein bisschen durcheinander und halblang, als ob er ein paar Monate nicht beim Friseur gewesen wäre oder sie sich selbst schneiden würde. Die Farbe war ein helles Mittelbraun, das an den Spitzen so ausgeblichen war, dass es schon fast blond wirkte. Als er den Kopf wieder hob, konnte sie sein Profil erkennen. Eine hohe, klare Stirn, die Nase schmal und gerade, auf den Wangen der Hauch eines Dreitagebarts, was ihn noch etwas verwegener aussehen ließ. Unter all den braven Leuten war er eine Ausnahmeerscheinung. Er sah aus, als wäre er viel im Freien und würde sein Abendessen öfter mal mit seinen eigenen Händen erlegen …
Er ließ die Aprikose sinken und behielt sie in der Hand, als ob er ihr Gewicht schätzen würde. Schließlich fragte er den Verkäufer, was sie kostete. Der winkte ab. Eine Aprikose würde ihn wohl auch nicht ärmer machen.
Der junge Mann biss hinein, drehte sich um und sah direkt in Sabrinas Augen. Ihr blieb fast das Herz stehen. Es war absoluter Zufall, dass sie ihn genau in dem Moment beobachtete, in dem er in die Frucht gebissen hatte. Auf seinem Gesicht lag noch die Freude an diesem Genuss, doch im nächsten Moment merkte er schon, dass sie ihn ansah und den Blick nicht abwenden konnte. Die
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