Lilienblut
Zeit hielt an, die Welt blieb stehen.
Inmitten der Menschen gab es plötzlich nur noch sie beide. Während um sie herum das Leben tobte, gab es auf einmal diesen stillen, unsichtbaren Tunnel, in dessen Mitte sie sich trafen und nicht mehr voneinander lösen konnten. Eine magische Anziehungskraft ging von ihm aus und brachte sie dazu, etwas zu tun, was sie noch nie getan hatte: Sie lächelte einen Wildfremden an. Und das war ein Fehler. Er zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und ging mit schnellem Schritt weiter.
Sabrina wurde knallrot. Sie sah ihm nach, bis er von der Menge verschluckt wurde. Er ging ein bisschen schwankend, fast als suchte er nach Halt auf dem Boden. Schließlich verschwand sein Rücken in der Menge. Immer noch klopfte ihr Herz schneller. Was war denn das? Hatte er etwa geglaubt, sie wolle ihn anbaggern? Sie hatte noch nie geflirtet. Sie konnte das nicht. Und wenn sie es wie eben ein Mal, nur ein einziges Mal versuchte, ging es komplett daneben. Sollte er doch seine geschenkte Aprikose woanders essen. Das hier war der Marktplatz von Andernach. Da kam es schon mal vor, dass man andere Leute von einem Eiscafé aus beobachtete und sie vielleicht sogar ganz aus Versehen anlächelte.
Sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Blaue Augen, helle, dichte Brauen, ein schmaler Mund, über den er gefahren war, als wollte er nicht nur den Saft, sondern auch ihren Blick abwischen.
»Hey, war der süß!«
Amelie stand hinter ihr, einen riesigen Nuss-Kuss-Eisbecher in der Hand, den sie vor Sabrina abstellte. »Hast du gesehen, wie er mich angeguckt hat?«
»Dich?«, fragte Sabrina. Ihr Magen sackte nach unten, als hätte ein Aufzug zu schnell angehalten.
Aber Amelie beachtete sie gar nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, aber sie hatte den jungen Mann offenbar auch aus den Augen verloren. »Wahrscheinlich ein Schiffer. Einer von der See. Der hatte so was … Salzwasserartiges.«
Was auch immer Amelie mit dieser Bezeichnung gemeint
haben mochte, Sabrina fragte nicht weiter. Sie versenkte den Löffel in den Sahneberg mit Karamellsoße und schob ihn sich in den Mund. »Imafenisnix.«
»Wie bitte?«, fragte Amelie.
Sabrina schluckte. »Im Hafen ist nichts. Nur Möllers Tankschiff. Die sind alle schon am Vormittag wieder raus.«
Von Leutesdorf aus hatte man einen guten Blick auf den Andernacher Hafen. Die Aktivitäten da waren ziemlich überschaubar. Ab Mittags war so gut wie nichts mehr los.
Amelie blieb noch einen Moment an dem Tisch stehen. »Aber er sah genau wie jemand aus, der schon ziemlich lange unterwegs ist. Was sollte er sonst hier machen?«
»Keine Ahnung.« Sabrina arbeitete sich gerade durch Walund Haselnüsse hinunter zum Nougateis. Er hatte gar nicht sie angesehen, sondern Amelie. Damit war das Nachdenken über den Unbekannten erledigt. Aber sie war trotzdem enttäuscht. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag war etwas, von dem sie glaubte, dass es ihr gehören würde, verloren gegangen. Erst ihre Geburtstagsfreude am Morgen und jetzt der Blick eines Unbekannten, der sie bis ins Mark getroffen hatte.
»Fräulein?«
Amelie huschte an einen anderen Tisch, um zu kassieren. Sabrina war so in ihren Eisbecher vertieft, dass sie gar nicht mitbekam, wie zwei Tische weiter eine gackernde Herde Platz nahm. Erst als jemand »Ach, die schon wieder!« rief, sah sie hoch und erkannte Janine. Sie legte gerade einen Haufen grellbunte Plastiktüten auf den Stuhl neben sich. Ihre Freundinnen ließen sich kichernd neben ihr nieder. Dann tuschelten sie miteinander, nicht ohne ab und zu einen Blick zu Sabrina zu werfen. Amelie kam vorbei und teilte die Eiskarten aus. Alle verstummten. Janine musterte Amelies Erscheinung von oben bis unten und machte eine gehässige Grimasse, als die ihr den Rücken zuwandte, um andere Tische abzuräumen.
Sabrina nahm eine Zeitung, die ein anderer Gast vor ihr liegen gelassen hatte, und blätterte sie durch. Nichts los hier. Am Wochenende war »Rhein in Flammen« in Boppard, aber
das Spektakel kannte sie, und es war auch zu weit weg für ihr Taschengeldbudget. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn sie nach den Sommerferien weiter auf die Schule gehen würde. Anders sähe die Sache aus, wenn sie die Ausbildung beginnen würde. Fast siebenhundert Euro stünden ihr laut Tarifvertrag zu. Eine Menge Geld, wenn man zu Hause wohnen blieb.
Sie faltete die Zeitung zusammen. Was sie am meisten davon abhielt, diesen
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