Lilienblut
Beruf zu wählen, war seine Endgültigkeit. Sie würde eines Tages den Betrieb übernehmen und genauso schuften müssen wie ihre Mutter. Sabrina konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal in Urlaub gefahren waren. Es lag nicht unbedingt am Geld. Der Sommer war einfach die wichtigste Zeit des Jahres. Die Hege der Weinstöcke, die Lese, dann das Pressen und Keltern, das Abfüllen … Es war schon tiefer Herbst, wenn zum ersten Mal wieder ein freies Wochenende drin war. Im Winter wurde alles Liegengebliebene erledigt. Dann gab es vielleicht ein, zwei Wochen Pause, bevor das Frühjahr begann und mit ihm der ganze Reigen wieder von vorne losging. Jahraus, jahrein. Ein Leben lang. Wollte sie das? Nein.
Also weiter zur Schule. Oder … Sie beobachtete Amelie, die gerade die Bestellung von Janine und ihren Freundinnen aufnahm. Das war auch nichts. Argentinien. Was sollte sie denn da? Sie sprach ja noch nicht einmal Spanisch. Amelie auch nicht, soweit sie wusste. Der Seufzer, der aus Sabrinas Brust hinauswollte, war abgrundtief. Andernach. Leutesdorf. Und als Höhepunkt des Jahres Weinfest in Neuwied und Rhein in Flammen. Das konnte doch nicht alles im Leben sein.
Wieder glitten ihre Gedanken zurück zu dem Jungen mit der Aprikose. Sie hätte schwören können, dass er sie angesehen hatte. Aber aus irgendeinem Grund scheute sie sich, das Amelie zu sagen. Sabrina wusste nicht, was sie daran hinderte. Sie hatten doch sonst keine Geheimnisse voreinander … Bis auf das Tagebuch. Gab es Dinge, die Amelie ihr nicht erzählte?
Sie rührte noch einmal mit dem Löffel in dem fast geschmolzenen, restlichen Eis herum und ließ ihn dann sinken. Das war doch absolut idiotisch, auf ein Tagebuch eifersüchtig zu sein. Jeder hatte das Recht auf Geheimnisse. Auch Amelie.
Ihre Freundin kam gerade mit einem voll beladenen Tablett zurück, auf dem fünf große Eisbecher standen. Damit trat sie an Janines Tisch. Gerade als sie den ersten – einen riesigen Schokolade-Krokant-Pokal – vor dem Mädchen abstellen wollte, erhob Janine die Stimme. Und zwar so, dass jeder in dem Café es hören konnte.
»Ich hoffe, du hast dir vorher die Hände gewaschen.« Amelie erstarrte. Die Mädchen schauten gespannt auf ihre Anführerin. »Ich will mir ja nichts holen.«
Amelie stellte ganz langsam das Tablett ab. »Wie meinst du das?«
»Genau so, wie ich es gesagt habe. Hast du dir die Hände gewaschen, bevor du uns das hier gebracht hast?«
»Nein! Wieso …«
»Dann kannst du das gleich wieder mitnehmen. Ist ja eklig.«
»Kannst du mir sagen, was daran eklig sein soll?«
Die Mädchen prusteten hinter vorgehaltenen Händen, die nicht so aussahen, als würden sie es mit der Hygiene übertreiben. Die anderen Gäste wurden aufmerksam und darauf schien Janine nur gewartet zu haben.
»Erstens möchte ich nicht von der Bedienung geduzt werden, damit das klar ist. Und außerdem: Weiß ich, was du den ganzen Tag über noch so anfasst? Und wen? – Die kannst du gleich wieder mitnehmen. Uns ist der Appetit vergangen.«
Amelie lief rot an. Die Mädchen suchten nach ihren Einkaufstaschen.
Sabrina schoss eine unbezähmbare Wut ins Herz. Ausgerechnet diese Blase eingebildeter Gänse wagte es, ihre beste Freundin zu beleidigen. Ohne nachzudenken, nahm sie ihren Eisbecher, stand auf und trat direkt hinter Janine. »Das nimmst du zurück.«
Janine sah hoch und riss in gespielter Überraschung die Augen auf. »Was bitte?«
»Du wirst dich bei Amelie entschuldigen.«
»Lass doch, Sabrina.« Ihre Freundin nahm das Tablett vom Tisch. »Das sind sie nicht wert.«
»Sie nicht, aber du. Also los. Hör ich ein ›Entschuldige bitte‹?«
»Niemals«, erwiderte Janine.
Sabrina hob ihren Eisbecher.
Janines kleine Augen flitzten zu den geschmolzenen Resten in dem Glas. »Das wagst du nicht.«
»Oh doch.« Sie kippte die ganze Soße direkt auf Janines Scheitel.
Mit einem Schrei sprang die auf und quiekte, dass der halbe Marktplatz aufmerksam wurde. Ihre Freundinnen rissen die Augen auf, warfen die Hand vor den Mund oder starrten ganz einfach nur auf die Bescherung, die langsam über Janines Haare hinunter auf ihr T-Shirt tropfte.
»Das … Das wirst du mir büßen.« Janine schnappte eine Papierserviette aus dem Ständer und begann, sich abzuwischen. Ihre Hand zitterte vor Wut.
»Mir wird schlecht vor Angst«, erwiderte Sabrina. Sie stellte das Glas ab. Sie kochte immer noch. Aber ein warnender Blick aus Amelies Augen ließ sie verstummen. Luigi, der
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