Lilienblut
Chef der Eisdiele, kam angerannt.
»Was ist hier los?«
»Diese Irre!«, kreischte Janine. »Hat ihr Eis über mich gekippt! Und die« – sie deutete auf Amelie – »hat sie auch noch angestachelt!«
»Das ist nicht wahr!«, verteidigte sich Amelie. »Sie haben Eis bestellt und dann alles zurückgehen lassen.«
»Zurückgehen? Warum? Stimmt was nicht mit meinem Eis?«
Der Chef war ein waschechter Italiener. Sein Eis durfte man genauso wenig beleidigen wie seine Mutter. Offenbar ging das jetzt auch Janine auf, die wortlos ihre Tüten zusammenklaubte.
»Was ist mit dem Eis, eh?«, rief er. »Stimmt was nicht damit? Keiner hat sich je über mein Eis beschwert. Bestes Eis, beste Sahne. Frisch jeden Tag. Also? Eh? Was ist das da auf deinem Kopf?«
»Ein Nuss-Kuss-Becher«, antwortete Sabrina.
»Den hat sie über mich gekippt.« Janines Augen loderten vor Wut, aber sie hatte zumindest ihre Stimme wieder in der Gewalt. Offenbar erwartete sie jetzt doch etwas Mitgefühl für ihre Situation.
»Aaah, wie furchtbar!«, rief Luigi aus.
Janine nickte triumphierend und klaubte sich ein Stück karamellisierte Haselnuss aus dem Schläfenansatz.
Luigi wandte sich an Sabrina, offenbar in völliger Verkennung der Umstände. Aber das musste man ihm ja nicht jetzt gerade auf die Nase binden. »Welche Verschwendung! Mein gutes Eis! Hat es dir auch nicht geschmeckt?«
»Doch, doch!«, rief Sabrina schnell. »Aber ich lasse doch nicht meinen Lieblingsitaliener beleidigen.«
»Carissima!« Der Chef lächelte so breit, dass seine Mundwinkel fast am Hinterkopf zusammentrafen. »Amelie! Bring dieser jungen Dame hier« – er deutete auf Sabrina – »noch einen Nuss-Kuss-Becher. Und ihr – weg. Fort. Lasst euch hier nicht mehr blicken!«
Janine warf den Kopf zurück und rempelte Sabrina absichtlich an, als sie an ihr vorbeiging. »Das wird dir noch Leid tun«, zischte sie so leise, dass es keiner außer Sabrina mitbekam. Plötzlich blieb sie stehen und trat so nahe an ihre Attentäterin heran, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. »Heute Morgen hatte ich ja fast noch Mitleid mit dir.« Sie hob triumphierend die erst ausgezupften und dann mit einem schwarzen Strich nachgezeichneten Augenbrauen. Offenbar war ihr doch noch etwas eingefallen, womit sie anderen Leuten den Tag vergiften konnte.
Sabrina setzte ihre hochmütigste Miene auf und verschränkte die Arme vor der Brust, damit ihr Janine ja nicht noch mal zu nahe käme. »Spar dir das für dich selbst«,
erwiderte sie. »Du wirst noch eine Menge davon brauchen.«
»Das Lachen wird euch schon noch vergehen. Dreißig Jahre. Wie kann man nur so blöd sein.«
Etwas klingelte in Sabrinas Kopf. »Was soll das heißen?«
Janines Lächeln war plötzlich genauso süß und klebrig wie die trocknende Eissoße in ihrem Gesicht. »Erosionsgefahr. Steinschlag. Güterverkehr. Ausbau der Bahnstrecke. Einen schönen Tag noch!«
Sie drehte sich um zu ihren Freundinnen, die sie schon sehnlichst erwarteten. Tuschelnd und immer noch empörte Blicke zurückschießend, verschwanden sie hinter den Marktständen. Sabrina kehrte zu ihrem Tisch zurück, auf dem bereits ein neuer Nussbecher auf sie wartete, den sie bestimmt nicht mehr bewältigen konnte. Als Amelie vorbeihuschte und ihr verschwörerisch zuzwinkerte, deutete sie auf das süße Gebirge und schüttelte verzweifelt den Kopf. Schließlich stand sie auf und ging hinein, um es sich in einen Pappbecher umfüllen zu lassen, den sie an der nächsten Straßenecke in einem Mülleimer entsorgte.
Zwei Stunden später hatte Amelie Feierabend. Sabrina hatte sich die Zeit auf der Uferpromenade des Rheins vertrieben. Sie kehrte wieder zum Marktplatz zurück, der nun wesentlich leerer war. Die Stände waren abgebaut, die meisten Geschäfte hatten schon geschlossen. Sie trafen sich am Bäckerjungenbrunnen, dem Wahrzeichen von Andernach, und Amelie ließ sich neben sie auf die Bank fallen.
»Echt Stress. Aber irres Trinkgeld. Sag mal, diese Tussen heute Nachmittag, das waren doch welche von deiner Schule?«
»Ja«, sagte Sabrina. »Wir sind in eine Klasse gegangen. Janine beginnt im August eine Lehre als Verwaltungsfachangestellte.«
Amelie steckte sich den Finger in den Mund und übergab sich symbolisch auf ihre Füße. »Ätzend. Aber Luigi ist ein Schatz. Schade, dass ich bald aufhöre.«
Sie schwiegen, weil dies einer der Sätze war, auf die Sabrina nicht antworten wollte, und weil Amelie verträumt den beiden Bäckerjungen aus
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