Lilith Parker: Insel Der Schatten
Was damals im Schattenwald zwischen Joseph und mir geschehen ist, war nur die Folge seines ungerechten Verhaltens. Du darfst deinen Vater dafür nicht verurteilen. Als Kind macht man nun mal unüberlegte Dinge, deren Folgen man nicht abschätzen kann.«
Auch wenn es Lilith schwerfiel, dies so verständnisvoll zu sehen wie Mildred, konnte sie nun immerhin nachfühlen, wie groß die Abneigung ihres Vaters gegen diesen Ort sein musste. Er würde niemals hierher zurückkehren! Sie fasste einen Entschluss.
»Dann gehe ich mit dir nach London! Jetzt, wo du nicht nach Burma gehen wirst, kann doch alles wieder so sein wie früher.«
»Lilith, bitte!« Er seufzte gequält auf. »Es ist besser, wenn du hierbleibst.«
Sie blinzelte ihn verständnislos an. »Warum … warum darf ich denn nicht mit dir kommen?«
Ihr Vater starrte auf seine Hände und schwieg.
»Du bist nun eine Nocturi, eine von ihnen«, antwortete er schließlich. »Wie kann ich sicher sein, dass du deine Kräfte nicht gegen mich verwendest?«
»Aber das würde ich doch niemals …«
»Du hast es heute Nacht schon fast getan«, unterbrach er sie mit kalter Stimme. Er schwieg einen Moment, ehe er in sanfterem Tonfall fortfuhr: »Abgesehen davon hat Mildred recht. Du bist nun die Trägerin des Bernstein-Amuletts. Dein Platz ist hier bei den Nocturi.«
Joseph Parker stand auf und zog sich seine Jacke über. Er beugte sich über Lilith, um ihr wie immer einen Kuss auf die Stirn zu geben, doch er hielt mitten in der Bewegung inne. Stattdessen strich er ihr in einer liebevollen Geste über die Wange und sah ihr tief in die Augen.
»Mach es gut, meine Kleine«, sagte er sanft zu ihr. »Ich melde mich bei dir!«
»Aber du bist mein Vater. Ich gehöre doch zu dir …«, flüsterte Lilith mit erstickter Stimme.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ging ihr Vater zur Tür. Als er sie hinter sich zuschlug, füllten sich Liliths Augen mit Tränen.
Der Morgen graute bereits, als Mildred Lilith in ihr Zimmer brachte. Anstatt auf dem Boden schlief Strychnin mittlerweile mit einem glücklichen Lächeln auf Liliths Bett und nur mit vereinten Kräften konnten sie ihn so weit zur Seite schieben, dass Lilith auch noch darin Platz fand.
Nachdem Liliths Tränen getrocknet waren, hatte Mildred ihr das Schlafmittel von Cynthia verabreicht und versprochen, in Erfahrung zu bringen, wie sich Lilith in Zukunft gegen die Todesalbträume schützen konnte.
Nun begann sich eine angenehme Trägheit in Lilith auszubreiten.
»Dein Vater beruhigt sich schon wieder, Lilith. Er wird sich mit dem Gedanken anfreunden, dass du die Fähigkeiten deiner Mutter geerbt hast, und dann tut ihm sicherlich leid, was er heute gesagt hat.«
»Und wenn nicht?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Mildred strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dann hast du hier dein neues Zuhause gefunden!«
Sie schüttelte Liliths Kopfkissen auf, schlug die Bettdecke zurück und Lilith ließ sich mit einem dankbaren Seufzen zurücksinken. Erst jetzt bemerkte sie, wie viel Kraft sie die letzten Tage gekostet hatten und wie sehr sie sich nach einem tiefen, erholsamen Schlaf sehnte.
»Aber was ist mit Belial? Meinst du, er wird wiederkommen?«
»Davon müssen wir ausgehen.«
»Ich hatte den Eindruck, dass nicht alle glücklich darüber sind, dass ich als Trägerin des Amuletts ausgewählt wurde.«
Mildred zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Viele haben Angst, weil sich das Portal wieder geöffnet hat. Sie sind wohl der Meinung, dass ein junges Mädchen nicht dazu in der Lage sein wird, die Nocturi anzuführen und im Kampf zu verteidigen. Außerdem …« Mildred stockte.
»Außerdem?«, hakte Lilith nach.
»Nun, es ist eigentlich nichts Wichtiges. Einigen ist nur aufgefallen, dass der Bernstein bei dir nicht so hell strahlt, wie er eigentlich sollte.« Mildred winkte ab. »Aber er strahlt, das ist die Hauptsache. Außerdem hast du Strychnin, das ist meiner Meinung nach Beweis genug.«
»Ich weiß auch nicht, ob ich in der Lage sein werde, die Nocturi anzuführen«, gestand Lilith. »Und ich weiß doch überhaupt nichts über die Welt der Untoten und ihre Geschichte – ich kann noch nicht einmal die Runenschrift.«
»Das werden wir ändern«, versprach Mildred. »Ich habe schon mit unseren Mitbewohnern gesprochen. Ab morgen fängt die Belegschaft des ›Seniorenstifts zum Friedhof‹ an, dich in allen wichtigen Fächern zu unterrichten«, erklärte sie feierlich. »Aber jetzt wird erst einmal
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