Lilith Parker: Insel Der Schatten
eine großartige Idee! »Jetzt, wo du nicht nach Burma gehen wirst, können wir doch hierher zu Mildred ziehen«, platzte es aus ihr heraus.
Wie sich gezeigt hatte, war der Auftrag aus Burma nur ein sorgfältig eingefädelter Trick Belials gewesen, um Vater und Tochter zu trennen. In Wirklichkeit hatte man Joseph Parker niemals dort erwartet. Als ihr Vater zu der Reise aufbrechen wollte, hatte Belial ihn mithilfe seiner Kräfte dazu gebracht, ihm zu folgen.
Voller Spannung sah Lilith ihren Vater an. Hoffentlich stimmte er ihrem Vorschlag zu. Sie stellte es sich wunderbar vor: Sie würde zusammen mit ihrem Vater, Mildred, Arthur und den anderen in der Parker-Villa leben. Gemeinsam könnten sie Lilith helfen, die Welt der Untoten besser zu verstehen und sie in ihren neuen Fähigkeiten unterweisen. Sie wären eine große Familie! Der Gedanke ließ sie vor Freude erstrahlen.
Doch die mühsam nach oben gezogenen Mundwinkel ihres Vaters waren nur ein schwaches Echo ihres Lächelns. »Lilith, hier ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Ich gehöre nicht nach Bonesdale. Es ist für alle besser, wenn ich so schnell wie möglich nach London zurückkehre und du hier bei deiner Tante bleibst. Ich habe eben mit ihr darüber gesprochen und Mildred ist einverstanden, dich für längere Zeit bei sich wohnen zu lassen.«
Ratlos sah Lilith von einem zum anderen. Sie sollte weiterhin hier in Bonesdale bleiben, obwohl ihr Vater wieder in ihrem Haus in London leben würde?
»Es geht um deine Wandlung zur Banshee«, erklärte ihr Mildred. »Dein Vater glaubt, dass du in unserer Welt besser aufgehoben bist. Außerdem hat dich das Amulett als Anführerin der Nocturi ausgewählt. Du hast ein großes Erbe anzutreten.«
»Aber dafür kann ich doch nichts. Das habe ich mir nicht ausgesucht!«
Lilith sprang so heftig auf, dass sie gegen den Tisch stieß und Mildreds Tasse ins Schwanken kam. Ehe Mildred reagieren konnte, hatte sich der heiße Tee über ihren Arm ergossen.
»Autsch!«, stieß Mildred mit schmerzverzerrtem Gesicht aus. Sofort rollte sie ihren von der heißen Flüssigkeit durchtränkten Ärmel zurück.
»Warte, ich hole dir etwas Kühles!« Lilith eilte zur Spüle, tränkte ein Tuch mit kaltem Waser und wollte es Mildred auf den Arm pressen, als sie stirnrunzelnd innehielt. Der Arm ihrer Tante war von seltsamen, tiefen Narben verunstaltet. Erst jetzt fiel Lilith auf, dass Mildred ständig langärmlige Pullover trug, was aber aufgrund der kalten Witterung nicht weiter verwunderlich gewesen war. Als Mildred Liliths fragenden Blick auffing, schnappte sie sich das Tuch und verdeckte mit einem beschämten Gesichtsausdruck ihre Narben.
Lilith schluckte schwer. Konnte es etwa sein, dass …?
»Die Geschichte über die Geschwister, die sich im Schattenwald verirrt haben – seid ihr beide das gewesen?«, fragte sie ungläubig.
Mildred sah zu Boden, während Liliths Vater ärgerlich die Augenbrauen zusammenzog. »Du hast Lilith davon erzählt?«
Schockiert sah Lilith ihren Vater an. »Du hast Mildred über Nacht ganz alleine im Schattenwald gelassen, ohne Hilfe zu holen? Wegen dir wurde sie von den Malecorax angegriffen und so schwer verwundet?«
»Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben!« Er fuhr sich nervös durch die Haare. »Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas geschehen würde. Sie sollte nur … etwas Angst bekommen. Mildred hatte gerade ihre Kräfte erhalten und ich war noch ein kleiner Junge, der von niemandem beachtet wurde – weil ich ein Socor war! Weißt du eigentlich, was Socor bedeutet?«, fragte er Lilith. Er stand auf und ballte die Fäuste. »Schwächling! Jemand wie ich ist in dieser Welt unwürdiger Abschaum und so werden wir auch behandelt. Es ist völlig egal, ob man einen guten Charakter hat oder in der Schule gute Noten schreibt – das Einzige, was zählt, ist, ob man Kräfte geerbt hat oder nicht. Jedenfalls ist das die Einstellung meines Vaters.« Er holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. »Ich dagegen bin der Meinung, dass niemand auf dieser Erde solche Fähigkeiten besitzen sollte. Schon damals habe ich Bonesdale gehasst und wollte mit all dem hier nichts mehr zu tun haben.«
Lilith hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie hatte ihren Vater noch nie so wütend gesehen.
»Ich kann verstehen, dass er sich damals zurückgesetzt gefühlt hat und verletzt war.« Mildred legte in einer besänftigenden Geste ihre Hand auf Liliths Arm. »Unser Vater war wirklich sehr hart zu Joseph.
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