1487 - Die Dämonen-Prinzessin
Keiner hatte mit der Ansprache gerechnet, die so unerwartet aufgeklungen war. Deshalb schraken nicht wenige der jungen Zuhörer zusammen oder gaben sogar einen leisen Schrei von sich.
Auf der dunklen Bühne zeigte sich noch niemand. Trotzdem unterbrach ein kleines Mädchen das drückende Schweigen. »Die Prinzessin!« rief sie mit ihrer Piepsstimme. »Sie ist es! Ich habe sie gehört…«
Von nun an warteten die Zuschauer noch intensiver darauf, dass etwas geschah, denn um diese Zeit – einige Wochen vor dem Weihnachtsfest – waren Prinzessinnen und alles, was mit Märchen zu tun hatte, sehr beliebt. Davon konnten die Kinder gar nicht genug bekommen, aber auch die Erwachsenen nicht, die ihren Nachwuchs begleitet hatten.
Die Spannung war noch gestiegen. Viel stärker konnte sie nicht mehr werden, und genau darauf nahm die Gestalt auf der Bühne auch Rücksicht. Sie blieb nicht länger verschwunden. Aber sie kündigte sich durch kein Geräusch an. Aus dem dunklen Hintergrund löste sie sich lautlos. Sie ging und dabei schien sie den Boden gar nicht mit den Füßen zu berühren. Sie hatte etwas Engelhaftes an sich.
Je näher sie kam, umso mehr trat sie in das Licht hinein, das plötzlich aus der Höhe nach unten fiel. Das Licht passte sich der allgemeinen Stimmung an. Man konnte es als weich bezeichnen. Es war nicht grell, es blendete nicht, es begleitete die Frau bis zu ihrem Platz auf der Bühnenmitte.
Dort stand der Stuhl, auf dem sie sich bald niederlassen würde.
Nein, es war eigentlich kein Stuhl, sondern mehr ein Thron. Ausladend, bequem mit einer hohen Lehne. Zudem war das Holz goldfarben angestrichen, sodass der Thron sehr wertvoll aussah. Er war einer Prinzessin würdig, die sich mit einer schon majestätisch wirkenden Geste hinsetzte und danach ihren Oberkörper aufrichtete, sodass ihr Rücken gegen die Lehne drückte.
Das Licht änderte sich. Es nahm mehr einen rötlichen Ton an, aber auch die gelben Schleier darin waren nicht zu übersehen, die sich wie ein Wasserfall über die sitzende Gestalt der Frau ergossen.
Sehr edel sah sie aus.
Sie trug ein rotes Gewand, das schon kein Kleid mehr im eigentlichen Sinne war. Der Stoff fiel locker über die Beine und endete dicht über den Knöcheln.
Die Prinzessin hob die Arme an. Mit den gespreizten Fingern strich sie über und durch ihr lackschwarzes Haar, das bis auf die Schultern fiel. Dazu gehörte das Gesicht mit den dunklen Augen, dem schönen Mund und der glatten Haut. So wie sie stellte man sich eine Prinzessin vor, und deshalb waren die Kinder auch gekommen.
Sie wollten eine Prinzessin sehen, die ihnen schöne Geschichten erzählen konnte. Geschichten über Könige und Königinnen, von bösen und von guten Menschen oder von geheimnisvollen Wesen, die in den Ländern wohnten, von denen die Prinzessin berichtetet.
Sie hatte auch einen Namen.
Geheimnisvoll hörte er sich an, denn sie hieß Ophelia. Es war ein Name, der zu ihr passte. Wer hieß schon so von den kleinen Zuschauern? Niemand, aber eine Prinzessin musste so heißen, davon waren sie alle überzeugt.
Allein das Erscheinen und das Platznehmen der Prinzessin hatte die Erwartungshaltung der Zuschauer noch verstärkt. Aber sie waren nicht richtig froh. Man konnte sie auf keinen Fall so bezeichnen.
Nicht erwartungsfroh. Etwas völlig anderes hielt sie in ihrem Bann.
Es konnten unsichtbare Fesseln sein, die um ihre Körper geschlungen waren. Sie sprachen auch nicht mehr. Wer sehr sensibel war, der konnte von einer leichten Bedrückung sprechen, die ihn erfasst hatte.
Die Mütter saßen nicht zwischen ihren Kindern. Sie hatten sich in die hinteren Reihen zurückgezogen.
Niemand wusste genau, woher Ophelia kam. Sie war plötzlich aufgetaucht. Als eine Märchenerzählerin hatte sie Werbung in den entsprechenden Zeitungen für sich und ihre Auftritte gemacht, und sie hatte tatsächlich Zulauf bekommen.
Auch hier in einem kleinen Ort abseits der City von London hatten sich die Zuhörer zusammengefunden, um ihren Geschichten zu lauschen. Dabei war den Menschen bekannt, dass Märchen nicht unbedingt lieb und nett waren. Manche konnten sehr böse sein, aber vor Weihnachten würde sie davon bestimmt nicht berichten.
Ein Buch hatte Ophelia nicht mitgebracht. Sie wollte die Geschichten auswendig erzählen, und genau damit begann sie jetzt. Sie setzte sich noch mal aufrecht hin. Sie drückte den Rücken zurück und richtete den Blick der dunklen Augen nach vorn, als wollte sie jedes Kind einzeln
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