Lilith Parker: Insel Der Schatten
das sie bei seinem Eintreten vergessen hatte wie üblich unter ihr T-Shirt gleiten zu lassen. Etwas Dunkles begann in seinen Augen aufzuflackern.
»Du hast eine schöne Kette«, sagte er mit seltsam belegter Stimme. Wie hypnotisiert hing sein Blick an dem Schmuckstück um Liliths Hals. Mit ausgestreckter Hand ging er langsam auf Lilith zu.
»Ähm. Danke.«
Eilig ließ Lilith das Amulett unter ihrem T-Shirt verschwinden.
Der Schaffner fuhr sich mit den Händen kurz über die Augen, setzte wieder ein Lächeln auf und verließ das Abteil. Lilith sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Dies war nicht die erste merkwürdige Reaktion auf das Amulett. Einen Tag nachdem sie es aus dem Tresor ihres Vaters entnommen hatte, stattete Lilith dem kleinen, an der Themse gelegenen Schmuckladen von Jacob de Vries einen Besuch ab. Eigentlich hatte sie sich erhofft, von dem versierten Juwelier und Goldschmied einige Informationen zur Herkunft des Amuletts zu erhalten. Doch die Begegnung war alles andere als positiv verlaufen. Die Erinnerung daran jagte ihr immer noch einen kalten Schauer über den Rücken.
Ihr Rollkoffer polterte über die Straße und ihr Rucksack hüpfte auf ihrem Rücken unsanft auf und ab. Lilith bekam Seitenstechen. Nur mit Mühe konnte sie die heftigen Stiche unter ihren Rippen ignorieren.
Greynock war selbst im sanften Licht der Abenddämmerung eine ungastliche, wie ausgestorben wirkende Arbeiterstadt. Allein die eiligen Schritte der drei Reisenden hallten durch die Straßen und wurden von den ungepflegten Häusern unnatürlich laut zurückgeworfen. Wenigstens, so hatte Lilith beim Verlassen des Bahnhofes erleichtert festgestellt, regnete es nicht mehr. Dafür hatte sich der eisige Wind zu heftigen Sturmböen ausgewachsen, die Liliths Haare immer wieder wild durcheinanderwirbelten.
»Wir haben es gleich geschafft! Da vorne ist der Hafen«, rief Eleanor O’Conner über ihre Schulter. »Schneller, Kinder, schneller!«
Ihr bodenlanger Mantel wehte wie eine schwarze Schleppe hinter ihr her, sodass ihr Sohn Matt einigen Abstand zu ihr halten musste. Er war nur einige Monate älter als Lilith, und wie sie festgestellt hatten, würden sie in Bonesdale dieselbe Klasse besuchen.
Lilith hatte die beiden problemlos im Zug gefunden und sich schnell mit ihnen angefreundet. Die zierliche, aber trotzdem energisch wirkende Eleanor O’Conner arbeitete als Schriftstellerin für Grusel- und Horrorbücher. Zur Freude der ganz in Schwarz gekleideten Frau mit dem streichholzkurzen dunklen Haar hatte Lilith sogar schon ein Buch von ihr gelesen. Eleanor wollte sich zum Schreiben auf Bonesdale zurückziehen und ihr Sohn Matt musste sie, ob er wollte oder nicht, begleiten. Und er wollte ganz eindeutig nicht. Genau wie Lilith war der Junge mit den dunkelbraunen Augen und der verstrubbelten Frisur wenig erfreut darüber, seine Schule und Freunde verlassen zu müssen, um in ein entlegenes Inselstädtchen zu ziehen.
»Warum konnten wir denn nicht ein Taxi nehmen?«, jammerte Matthew keuchend.
»Nun, vielleicht deshalb, weil keines da war?«, gab seine Mutter genervt zurück.
Lilith hätte es vor Matt zwar nicht zugegeben, doch auch sie hätte in diesem Moment alles für ein Taxi gegeben. Sie spürte, wie ihr trotz der Kälte die Schweißtropfen über den Rücken liefen, und ihr rechter Arm, mit dem sie den Koffer zog, wurde immer schwerer. Während sie in London noch gedacht hatte, ihr Koffer sei viel zu klein und sie könnte nur einen Bruchteil ihrer Sachen mitnehmen, so hatte sie jetzt das Gefühl, sie würde eine Schubkarre mit Backsteinen hinter sich herziehen.
Sie hetzten an einem wartenden Reisebus vorbei, dessen graue Abgaswolke Lilith fast die Luft raubte, und bogen in den Hafen ein. Er war so winzig, dass Lilith die Fähre problemlos ausmachen konnte. Neben einigen Sportbooten und Fischkuttern schaukelte ein nur geringfügig größeres Schiff – es glich eher einem Ausflugsboot als einer Fähre – unruhig im Wasser. Hier, direkt am Meer, waren die Sturmböen noch heftiger und wie große unsichtbare Hände drängten sie die drei Reisenden ein ums andere Mal zurück. Schon schwappten einige Wellen über die Kaimauer und tasteten sich gierig in den Hafen hinein. Liliths Magen zog sich krampfhaft zusammen. Sie mochte zwar das Meer, allerdings nur, wenn sie ihm nicht zu nahe kommen musste. Diese gewaltige, dunkle Wassermasse war ihr einfach nicht geheuer und bei dem Gedanken daran, mit diesem winzigen Schiff in den Sturm
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