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Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Titel: Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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versucht. Und die Zubereitung von Mahlzeiten ist sicherlich die einfachste und wirksamste Art, echte Magie zu betreiben. Echt schwarz oder echt weiß. Und nicht das bunte Zeug, das tiefgefroren hinter Fotografien seiner selbst schlummert.
    Jedenfalls war es so, daß Georg mit der Küche und der Kocherei absolut nichts zu tun hatte. Somit auch das Geschirr nicht etwa zu spülen brauchte, als würde er die Pinsel seiner malenden Frau abwaschen. Seine Position war allein die des Essers. Auch begriff er wohl, daß die Magie, die seine Frau dabei trieb, eindeutig Züge des Hellen und Freundlichen besaß. Wie ja auch hinter dem unkomplizierten Wesen seiner Tochter keine Dämonie verborgen schien. Dieses Kind war ganz einfach mit sich und der Welt zufrieden, ohne gleich naiv zu sein. Sie kannte den Dreck der Straße, wußte um ein paar ekelhafte Ausformungen des Sexuellen sowie um die Anziehungskraft tröstender Stimulanzien. Aber sie hatte nun mal Trost nicht nötig. Auch keinen Kerl, der es ihr beinhart besorgte. Sie fand, daß fünfzehn Jahre und ein von jeder Grobheit verschonter Körper ungeeignet waren, sich irgendeine Beinhärte anzutun, bloß weil selbige mit schicker Frisur und tätowiertem Oberarm daherkam. Oder irgendeinen Dreck der Straße zu idealisieren. Sie sagte gerne, derartiges könne sie sich in fünf bis zehn Jahren leisten. Aber das war eine Koketterie. Eine der wenigen, zu der sie sich – jung, aber nicht unschuldig, brillant, aber kein Luder – hingab. Nein, sie hatte nicht vor, in fünf bis zehn Jahren Abgründe zu schauen, nur weil die schon mal existierten.
    So war das.
    In diesem idyllischen Nest lebte Georg Stransky und konnte sich ein perfektes Abendessen kredenzen lassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, ohne einen Vorwurf oder eine Hinterlist befürchten zu müssen. Auch war er selbst ja keineswegs ein Lebemann oder Gauner oder Sesselhocker. Er tat seinen Teil, unterrichtete an der Universität, verfaßte Artikel, ja, publizierte ganze Bücher, wie man sagt, jemand schlachte ein ganzes Schwein, als könnte man ein halbes oder viertel Schwein schlachten.
    Anstatt nun aber das Faktum ungerechter Verteilung, ungleichen Glücks und Unglücks als gegeben hinzunehmen und eine gewisse philosophische Schwammigkeit des Lebens zu akzeptieren, stellte sich Georg Stransky also die Frage: »Habe ich das eigentlich verdient?«
    Hätte er auf diese Frage verzichtet – sie zumindest nicht in diesem Moment mit dieser Eindringlichkeit gestellt –, wäre alles so weitergegangen wie bisher. Er hätte geerbt und geerbt und geerbt.
    Aber manche Frage darf nun mal nicht gestellt werden. Auch nicht in Gedanken. Beziehungsweise vor allem in Gedanken nicht. Der Gedanke reizt mehr als das gesprochene Wort. Die Reizung funktioniert wie eine Krankheit. Plötzlich ist man nicht mehr gesund.
    Klirrr!
    Es gibt Sekunden, die sind gleichzeitig schneller und rasanter als übliche Sekunden, aber auch gedehnter, ja, geradezu spielfilmartig ausgezogen. Sie sind voll von Eindrücken und Bildern und Umständen, aber des ungeheuren Tempos wegen kaum nachvollziehbar. Nachdem sie geschehen sind, meint man, ein halbes Leben wäre abgelaufen, ohne auch nur eine Winzigkeit wirklich realisiert zu haben. Gleich den Leuten, die über Nacht weiße Haare bekommen. Oder über Nacht in ein Meer von Runzeln fallen.
    Weiße Haare und Runzeln blieben Georg erspart. Aber sonst…
    Eine Scheibe war zersprungen. Eine von denen, die hinunter auf die Straße wiesen. Ein Gegenstand hatte das geschlossene Fenster durchbrochen und war über den semmelgelben Parkettboden gekullert. Ja, gekullert. Soviel hatte Georg registrieren können, um zu wissen, daß das glänzend rote Objekt eine runde oder wenigstens halbwegs runde Form besaß. Jedenfalls geeignet war zu kullern, anstatt etwa wie ein Sack aufzuschlagen oder im Stil einer Kröte oder eines Puddings aufs Parkett zu klatschen. In der polierten Art einer Bowlingkugel hatte das fremde Ding eine leicht gebogene Spur gezogen, um unter den Eßtisch zu geraten und dort gegen das mittige Tischbein zu stoßen und seine Bewegung zu beenden.
    »Jesus!« rief Georg aus und sprang in die Höhe. Er rannte zum Fenster und spähte nach draußen. Hinaus auf den Gehweg, der im Licht einer untergegangenen Spätsommersonne dalag, von niedrigen Büschen flankiert, frei von Autos, die in einer solchen Gegend friedlich in ihren Garagen hockten. Auch frei von Passanten. Zumindest war da niemand zu sehen, der

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