Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
in Frage kam, der Werfer zu sein.
Der Werfer wovon?
Georg kam zurück an den Tisch und betrachtete kurz seine Frau und seine Tochter, die sich erhoben hatten und auf die andere Seite des Raums gewechselt waren. In keiner Weise hysterisch oder ängstlich, bloß vernünftig. Der Eßtisch gemahnte jetzt an eine dieser Wasseroberflächen, unter denen ein paar bissige Fische zu vermuten waren. Wie bissig? Das war die Frage.
Keine Frage hingegen war, daß, wenn Violas Aufgabe darin bestand, trotz ihres Berufs famose Abendmahlzeiten zuzubereiten, und Mia unaufgeregt die Pflicht erfüllte, stets die beste Schülerin zu sein, es eindeutig Georg zukam, unter den Tisch zu kriechen und nachzusehen, wie bissig dieser Fisch war.
Oder diese Bombe.
Nicht, daß dies dem männlichen Wesen grundsätzlich entsprach. Doch es war verflixt. Aus eigener Schuld und Ohnmacht hatte der Mann – meistens schlecht im Kochen und schlecht in der Schule – genau in dieser Funktion seinen traurigen Kulminationspunkt gefunden: im Nachsehen, ob ein Gegenstand eine Bombe war oder nicht. Das ganze Leben der Männer spielte sich in dieser Kategorie ab. Ständig krochen sie unter Tische, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nicht wenige flogen dabei in die Luft. Und wenn nicht heute, dann morgen. Und wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere. Anstatt endlich damit aufzuhören, sich diese Unter-den-Tisch-Kriecherei als etwas Edles zu denken, als Ausdruck von Macht und Politik und Intelligenz. Was ja ein Witz ist. Selbst Weltkriege finden noch unter dem Tisch statt, wo jedermann auf allen vieren und mit geducktem Kopf durch die Gegend kriecht. Wen, um Himmels willen, meinen die Männer damit zu beeindrucken? Gott? Ihre Frauen? Ihre Mütter? Irgend jemand, der ebenfalls unter dem Tisch hockt?
Aber auch Georg hielt sich an das Muster, biß die Zähne zusammen, unterdrückte das Brennen in seinen Fingern und ging in die Knie. Er schob die Tischdecke wie einen Vorhang zur Seite und kroch in das Dunkel hinein.
Er erkannte ihn gleich, den geworfenen Gegenstand, welcher tatsächlich kreisrund schien, wobei drei Viertel des Körpers im Schatten lagen und nur ein sichelartiger Ausschnitt feurig aufleuchtete. Man hätte meinen können, ein kleiner roter Mond ziehe hier seine Bahn. Um das Tischbein herum wie um eine kosmische Säule.
Georg schluckte und griff nach dem Stück Mond. Er zog ihn aus dem Schatten, holte ihn ins Licht der Zimmerbeleuchtung und konstatierte nun, worum es sich handelte: um einen Apfel.
Beinahe war er enttäuscht. Diese ganze Aufregung für ein Stück Obst.
»Was soll das?« fragte Georg laut. »Was tun diese Kids? Äpfel klauen und damit Krieg spielen.«
Er schüttelte den Kopf, deponierte das Wurfgeschoß auf der Spüle und bemerkte nebenbei, sich mit Äpfeln nicht auszukennen. Etwa mit den einzelnen Sorten.
Anders seine Tochter. Sie erwähnte einen englischen Namen, den Georg aber nicht richtig verstand. Egal. Es war ihm gleichgültig, wie dieses blutrote Ding hieß.
Blutrot?
Nicht wirklich blutrot, wie man das von eigenen Schnittwunden kannte, sondern eher dieses Rot, das einem der Anblick erschlagener Stechmücken bot. Was ja immer ein wenig grausig war, eigenes Blut zu betrachten, das durch einen fremden Körper gegangen war. In gewisser Hinsicht erschlägt man sich selbst.
Ein solches Rot, ein Rot von quasi selbst erschlagenem eigenem Blut, besaß diese Frucht, die im übrigen wie ein ganz normaler Apfel aussah. Wie auch sonst?
Und genau darum hielt sich die Aufregung in Grenzen. Georg kehrte die Scherben auf und ließ an der betroffenen Stelle den Rolladen herunter. Viola richtete die Nachspeise, glücklicherweise nichts mit Obst. Mia räumte die Teller ab und füllte Wein in die Gläser ihrer Eltern. Der Apfel aber blieb, wo er war. Erst später, als Mia und ihr Vater bereits vor dem Fernseher saßen, fiel Violas Blick wieder auf das Corpus delicti. Auch Viola Stransky hatte so ihre Assoziationen. Nichts mit Blut. Viola war keine von denen, die ständig an Blut dachten. Eher dachte sie an Kuchen und daß man den Apfel, wenn schon nicht roh essen, so zumindest in irgendeine Süßspeise hätte einarbeiten können. Andererseits war nicht auszuschließen, daß in der Frucht ein Glassplitter steckte, obgleich die Oberfläche völlig unbeschadet schien. Wie auch immer, es gehörte sich nicht, ein durch eine Scheibe geflogenes Obststück einem Nachtisch beizufügen. Das hätte schon sehr auf eine verrückte Art
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