Lilly Höschen (01): Walpurgismord
ein Gespräch einlassen. Denn oft endete solch eine belanglose Plauderei mit einer Maßregelung oder einem Tadel. Und wer sich gar erdreistete, ihr offen zu widersprechen, konnte durchaus mit einer handfesten Beleidungung rechnen. Aber heute hatte Lilly dafür keine Zeit. Schnellen Schrittes betrat sie den Flur des Amtsgerichts. Der Hausmeister, der ihr über den Weg lief, schaute ganz entgeistert und sagte:
»Hier ist Rauchen verboten«, woraufhin sie ihm ihren Zigarillo in die Hand drückte und sich nach dem Saal erkundigte, in dem die Verhandlung stattfand. Ganz verdattert ging der Hausmeister mit dem Zigarillo nach draußen.
Als Lilly die Tür des Gerichtssaals öffnete und eintrat, redete der Richter gerade. Mit Mühe brachte er seinen Satz zu Ende und tat so, als sähe er seine alte Lehrerin gar nicht. Wahrscheinlich ist die Alte nur neugierig und will ihrem Großneffen Amadeus bei der Arbeit zusehen, hoffte er. Aber da hatte er sich geirrt. Mit ihrer durchdringenden Stimme sagte sie:
»Ich habe eine Aussage in diesem Fall zu machen.«
Am besten so tun, als würde ich sie gar nicht kennen, dachte Richter Ulrich Geist. »Sind Sie als Zeugin geladen?«, fragte er.
»Ulrich Geist, du weißt ganz genau, dass ich nicht als Zeugin geladen bin. Das ist ja gerade der Fehler. Ich habe eine Aussage zu machen, um dieses Gericht vor einem Fehlurteil zu bewahren.«
»Ich verstehe nicht. Wer sind Sie denn überhaupt?«, stammelte der Richter, wohlwissend, wie unglaubwürdig seine Frage war.
»Du weißt ganz genau, wer ich bin«, sagte Lilly. Der Richter tat erstaunt und fragte wie ein schlechter Schauspieler:
»Frau Höschen?«
» Fräulein , wenn ich bitten darf. Ich habe immer noch nicht geheiratet.«
Die bis jetzt gelangweilten Zuschauer fingen an, sich zu amüsieren, während Amadeus, der auf der linken Seite mit seinem Mandanten saß, sich die Hände vors Gesicht hielt. Am liebsten wäre er im Boden versunken und betete, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge.
»Oh, entschuldigung, Fräulein Höschen. Aber ich habe Sie so lange nicht gesehen, dass...«, stotterte der Richter und Lilly erwiderte:
»Nein, du ziehst es ja vor, jedesmal die Straßenseite zu wechseln, wenn wir uns begegnen!«
Jetzt fingen die Zuschauer an zu lachen, während sich Amadeus die Haare raufte.
»Nun, Fräulein Höschen, setzen Sie sich doch bitte einfach auf den Zeugenstuhl. Er ist gerade frei geworden.«
Lilly nahm Platz und der Richter sagte: »Zu Ihren Personalien...«
Lilly unterbrach ihn: »Lilly Höschen, achtzig Jahre alt, pensionierte Oberstudienrätin, ledig, wohnhaft in Lautenthal, nicht verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten. Reicht das?«
»Perfekt. Nun muss ich Sie belehren, dass Sie vor Gericht die Wahrheit sagen müssen. Andernfalls würden Sie sich strafbar machen. Am besten, Sie erzählen uns einfach, was Sie zu uns führt und was Sie zur Wahrheitsfindung beitragen können.«
»Nun«, setzte Lilly an, »soweit ich von der Mutter des Angeklagten erfahren habe, wird ihm vorgeworfen, am 30. April zwischen 12.30 Uhr und 13.00 Uhr einen Diebstahl begangen zu haben. Das kann aber nicht sein, es sei denn, dass es diesen Herrn in doppelter Ausführung gibt.«
»Kommen Sie doch einfach zur Sache«, meldete sich nun Staatsanwalt Hans Gutbrodt zu Wort, ein Mann von Ende fünfzig mit kurzgeschnittenem, grauem Haar und einem markanten Leberfleck auf der Wange.
»Ich bin bei der Sache. Und je weniger Sie mich unterbrechen, desto schneller werden Sie erfahren, wie unsinnig Ihre Anklage ist. Also, am Morgen des 30. April – ich weiß das so genau, weil das der Walpurgistag war, stand ich mit heftigen Schmerzen in der Schulter auf. Das einzige, was mir in einer solchen Situation hilft, ist eine Behandlung durch meine großartige Physiotherapeutin. Da besagte Dame kurzfristig kaum Termine hat, entschloss ich mich, mich einfach ins Auto zu setzen und hinzufahren. Sie würde mich leidendes Geschöpf bestimmt irgendwie dazwischenschieben, dachte ich. Also fuhr ich nach Clausthal zu Frau Anja Gutbrodt.«
Jetzt fiel dem Staatsanwalt die Kinnlade herunter. Besagte Physiotherapeutin war seine Ehefrau. Lilly Höschen fuhr unbeirrt fort:
»Ich parkte meinen Wagen an der Clausthaler Kirche. Da schlug es gerade halb eins. Zur Rollstraße, wo sich die Praxis befindet, sind es ja nur ein paar Schritte. Ich betrat also die Praxis, und niemand war da. Naja, dachte ich, es wird schon gleich jemand kommen. Aber es kam niemand.
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