Lilly Höschen (01): Walpurgismord
Vermisstenmeldung nicht sonderlich ernst genommen. Zwei erwachsene Menschen, die mal einen Tag nicht nach Hause kommen – das sei so ungewöhnlich nicht. Als am Tag darauf noch immer kein Lebenszeichen zu vernehmen war, setzte Lilly Himmel und Hölle in Bewegung. Die Polizei kam zu ihr ins Haus und ihr Direktor, den sie am Maifeiertag anrief, gab ihr Sonderurlaub, damit sie sich um alles kümmern konnte. Aufgrund von Amadeus‘ Hinweis, dass seine Eltern wohl eine Moorwanderung machen wollten, suchte man das entsprechende Gebiet ab. Ergebnis: Nichts! Kein Hinweis, dass sie dort gewesen waren. Niemand hatte sie oder ihren Wagen gesehen. Nicht der kleinste Gegenstand, der auf ihre Anwesenheit hinwies, wurde gefunden. Kein Zeichen eines Verbrechens. Absolut nichts. Sie waren einfach weg.
Bei dem zwölfjährigen Amadeus machte sich in den Wochen und Monaten danach eine große Traurigkeit breit, die dann in Wut umschlug. Auf wundersame Weise gelang es Lilly jedoch, den Jungen in den Alltag zurückzuführen. Er wohnte bei ihr in Lautenthal und kam mit der neuen Schule in Clausthal-Zellerfeld, dasselbe Gymnasium, auf dem Lilly unterrichtete, gut zurecht. Lilly war großmütig hinsichtlich seiner Wünsche und Bedürfnisse. Sie ermutigte ihn zur Selbstständigkeit und setzte die Grenzen des Erlaubten recht hoch an. Allerdings durften diese nie überschritten werden. Das Verhältnis zwischen dem Heranwachsenden und der alten Tante war freundschaftlich und liebevoll. Erst später, etwa zwei Jahre vor dem Abitur, musste Lilly einigen Druck anwenden, damit er in seinem pubertären Übereifer nicht alles hinwarf.
In dem kleinen Städtchen Lautenthal wurde Amadeus schnell heimisch. Den Ort mit seinen gut zweitausend Einwohnern kannte er nach kurzer Zeit in- und auswendig. Die Zahl der Kinder in seinem Alter war überschaubar, und er hatte schnell ein paar Freunde, mit denen er etwas unternehmen konnte. Clausthal-Zellerfeld, wo er zur Schule ging, war größer, hatte aber auch nicht annähernd das zu bieten, was er aus Hannover gewohnt war. Aber das fehlte ihm auch nicht. Es ging ja allen so. Man fand schon Aktivitäten, die einem Spaß machten. Das Wichtigste war, dass er schnell Freunde fand.
Lautenthal, 2. Juli 2010
Am Abend nach der Gerichtsverhandlung kam Amadeus mit seinem Freund Klaus Weniger zu Lilly. Klaus wohnte in Hannover. Man hatte sich für das Wochenende verabredet. Da Amadeus aufgrund der Platzverhältnisse und des chaotischen Zustands seiner Wohnung keine Übernachtungsgäste empfangen konnte, wollte man das Wochenende bei Lilly verbringen. Sie mochte Klaus und in ihrem Haus gab es viel Platz. Sie hatte zwei Zimmer hergerichtet und eingekauft, um mit den beiden Jungen , wie sie sie nannte, im Garten zu grillen.
Amadeus war zu einem lebensfrohen jungen Mann herangewachsen. Die Erziehung durch seine Großtante Lilly hatte ihm nicht geschadet. Außerdem sah er gut aus und hatte nach zahlreichen Freundinnen nun eine feste Beziehung zu einer jungen Dame namens Marie. Er und seine Großtante liebten sich innig. Die kleinen Frötzeleien, die sie austauschten, waren das Salz in der Suppe ihrer Beziehung.
Amadeus und Klaus hatten sich vor einigen Jahren in Hannover kennengelernt. Beide waren aufgrund einer Bewerbung zu einem Accessment Center bei einer großen Versicherung geladen worden. Amadeus saß im Foyer des Konferenzzentrums in einer aus übergroß-protzigen Sesseln bestehenden Gruppe mit einem runden Tisch in der Mitte. Dann gesellte sich Klaus dazu. Beide nickten sich nur zu, sprachen aber kein Wort. Ein paar Minuten später tauchte ein weiterer junger Mann auf, der ein freundliches Grüezi von sich gab, was den beiden Wartenden ein Lächeln ins Gesicht trieb. Aha, Bewerber aus der Schweiz sind auch vertreten, dachte Amadeus. Auf dem Tisch stand eine große Jugendstilschale, gefüllt mit allerlei Süßigkeiten. Irgendwann griff der Schweizer zu. Das heißt, er kam gar nicht zum Zugreifen. Als seine Hand über der Schale war, zerbrach sie in zwei Teile, einfach so, und die Süßigkeiten kullerten über den Tisch. Der zugreifende Kollege aus der Schweiz hielt in seiner Bewegung inne und schaute ganz entgeistert auf das Malheur. In bestem Schwyzerdytsch sagte er dann:
»Ich habe das Klump gar nicht berührt.«
Zuerst fing Amadeus an zu lachen. Dann tat Klaus es ihm nach. Irgendwann begannen bei Amadeus die Tränen zu laufen. Er konnte kaum atmen. Und Klaus lachte so laut und schallend, dass die anderen
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